© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/17 / 24. März 2017

Los von Rom – aber nicht ganz
Südtirol: Wie wichtig ist der deutschsprachigen Minderheit in Italien ihre Unabhängigkeit? Ein Lokalaugenschein
Lukas Steinwandter

Draußen kämpft der Schnee mit dem Regen um die Niederschlagshoheit, drinnen kocht die Stimmung. Die Tanzfläche ist voll. Männer wirbeln gekonnt ihre Partnerinnen im Dirndl zur Musik umher. Stämmige Burschen in Lederhose servieren übervolle Bierkrüge und Schlutzkrapfen, eine regionale Nudelspezialität. Mehr als 300 Gäste haben sich versammelt, um den zwölften „Tiroler Ball“ zu feiern. Von den Decken hängen Fahnen. Die Farben Weiß und Rot dominieren: die Nationalflagge Österreichs, die Tiroler Fahne, auf einem Panier prangt fettgedruckt „Ein Tirol“.  

50 Mitglieder und Helfer der Schützenkompanie Ehrenburg ermöglichen den Festabend mit Livemusik und Auftritten von Schuhplattlern. Auf der Speisekarte, die – eher ungewöhnlich –  einsprachig deutsch gehalten ist, locken Tiroler Spezialitäten. Auf der Bühne spielt die Band Tiroler Wind eine Mischung aus Volksmusik und fetzigen Hits. 

Daß der Tiroler Ball nicht in Österreich, sondern auf italienischem Staatsgebiet gefeiert wird, weiß der Besucher an diesem Abend nur, wenn er auf sein  Mobiltelefon blickt und italienisches Netz empfängt. Die Tiroler mit italienischem Paß haben sich in Kiens im Pustertal zusammengefunden, eine kleine Gemeinde wenige Kilometer westlich von Bruneck in der nördlichsten und autonomen Provinz Italiens, Bozen – Südtirol. Unter den Gästen befindet sich auch reichlich regionale Politprominenz.

Brenner trennt Tiroler in Nord und Süd

Sven Knoll sitzt zusammen mit einigen Parteikollegen mitten im Saal, den Tiroler Adler am Revers. Der Fraktionssprecher der Oppositionspartei Süd-Tiroler Freiheit setzt sich seit Jahren für die doppelte Staatsbürgerschaft für Südtiroler ein. „Der Brenner ist und bleibt eine verwaltungstechnische und politische Grenze, die nach wie vor Tiroler im Norden von Tirolern im Süden trennt“, sagt er. Das sei spätestens während der Asylkrise deutlich geworden. Knoll mahnt jedoch auch die „politisch instabile Lage“ in Rom an. „Nach der nächsten Parlamentswahl könnte eine Partei in Rom an die Macht kommen, die sich offen für die Rückkehr zur Lira und einen Austritt aus der EU ausspricht.“ 

70 Kilometer landeinwärts. Am Waltherplatz in Bozen tummeln sich bei frühlingshaften Temperaturen im Februar viele Touristen und Einheimische. Nur einige Meter vom Bozner Dom entfernt, führt ein Italiener seine „Tabaccheria“, einen Kiosk. Die Frage, ob sich Südtirol von Italien trennen sollte, will er zunächst nicht beantworten. „Ich bin nur ein kleiner Bürger, meine Meinung zählt sowieso nicht.“ Dann sagt er: „Come é, é bene“, und winkt ab, „wie es ist, ist es gut“. Veränderungen seien schwierig.  „Immer wenn etwas Größeres verändert wird, kommt am Ende Chaos heraus.“ Ähnlich sieht es Birgit. Die 50jährige lebt in einem kleinen Dorf nahe Bozen, arbeitet aber in der Südtiroler Landeshauptstadt. Bereits als sie ein Kind war, sei Bozen italienischer als andere Teile Südtirols gewesen. „Über Unabhängigkeit reden wir in der Familie eigentlich nie, außer wenn es in den Zeitungen oder in der Politik thematisiert wird.“ 

Die Zugehörigkeit Südtirols zu Italien sei schon längst nicht mehr nur ein politisches Problem, sondern werde zunehmend zur wirtschaftlichen Belastung, die die Bevölkerung in Zeiten der Wirtschaftskrise deutlich zu spüren bekommen, mahnt Knoll. Hinzu komme die Ungerechtigkeit, die viele Südtiroler empfänden. „Die aktuellen Unabhängigkeitsbestrebungen in Schottland und Katalonien befeuern die Diskussion. Zu Recht fragen sich viele Südtiroler, warum die Schotten über ihre Zukunft abstimmen dürfen, die Südtiroler aber nicht.“

Selbstbestimmung und die wirtschaftliche Lage Italiens sind auch für Elmar Thaler ein wichtiges Thema. Er lebt in Montan, rund 30 Kilometer südlich von Bozen, und ist Landeskommandant des Südtiroler Schützenbundes, der in fast jeder Gemeinde vertreten ist. „Wenn man ehrlich ist, ist es wie überall“, konstatiert er, „Menschen möchten Veränderung und gleichzeitig fürchten sie sich vor ihr“. Er schätzt, rund 30 Prozent der Südtiroler sehnten sich eine Veränderung hinsichtlich der Staatszugehörigkeit zu Italien ohne Wenn und Aber herbei. 

Das spiegelt sich so auch im Südtiroler Landtag wider. Bei der jüngsten Landtagswahl 2013 errangen die Freiheitlichen als stärkste deutschsprachige Oppositionspartei 17,9 Prozent der Stimmen und sechs von 35 Parlamentssitzen. Zusammen mit der Süd-Tiroler Freiheit und der Bürgerunion für Südtirol erhielten Parteien, die eine Unabhängigkeit Südtirols von Italien anstreben, nicht ganz 30 Prozent. Stärkste italienische Kraft war der Partito Democratico mit 6,7 Prozent, gefolgt von Lega Nord (2,5 Prozent) und L’Alto Adige nel cuore (Südtirol im Herzen, 2,1 Prozent). 

In einem Kaffee in den Bozner Lauben, der wichtigsten Flanier- und Einkaufsstraße der rund 100.000 Seelen zählenden Stadt, sitzen Nadja, Sarah und Lisa. Die Schülerinnen sind zum Einkaufen in die Landeshauptstadt gekommen. Palmbäume und italienische Boutiquen tauchen den Besucher eher in toskanisches Altstadtflair. Lediglich die Berge rings um Bozen erinnern den Besucher an das „Heil’ge Land“ Tirol. 

Der Leidensdruck ist noch nicht groß genug 

Außerhalb des Unterrichts sprächen die Freundinnen selten bis gar nicht über Politik. „Wir haben keinen Grund dazu, uns geht es gut so, wie es ist“, sagt Sarah. Auch in ihren Familien sei Südtirols Unabhängigkeit kein Thema. „In Bozen diskutiert man generell nicht so sehr darüber. Eher im Pustertal.“Der „Leidensdruck“ sei eben für viele noch nicht groß genug, beschreibt Thaler die Zurückhaltung. 

„Noch überwiegen die Unsicherheitsfaktoren für den Tag danach: Was geschieht mit der Rente, wie wirkt sich eine Unabhängigkeit auf die Wirtschaft aus?“ Hauptberuflich leitet Thaler eine Druckerei- und Internetfirma in Neumarkt. Als Unternehmer weiß er, welche Schikanen der Staat Italien bereithält. „Eines der großen Probleme ist die schier endlos lange Verfahrensdauer bei Prozessen“, moniert er. Laut dem EU-Justizbarometer 2016 benötigten italienische Gerichte 2014 im Schnitt 532 Tage, um über ein Handelsverfahren erstinstanzlich zu urteilen. 

In Österreich sind es 130 Tage. Bei Verwaltungsverfahren benötigt die Justiz im Stiefelstaat sogar 984 Tage, um zu einem Urteil zu kommen. Im Korruptionsindex lag Italien zuletzt auf Rang 60, hinter Rumänien oder Ruanda. Thaler stößt vor allem die römische Regulierungswut sauer auf. „Die ist schon traditionell“, sagt er und verweist auf die Zahl 150.000 – so viele Gesetze hat Italien zwischen 1963 und 2003 erlassen. In Deutschland waren es in diesem Zeitraum 7.300. „Nun gibt es in Italien ein Sprichwort, das lautet ‘fatta la legge, trovato l’inganno’ und bedeutet, daß mit jedem Gesetz auch gleich die Methode, es zu umgehen, in Umlauf kommt.“ Dies treffe vor allem auf Italien zu – „nicht aber auf Südtirol“. Während andere Regionen die rechtlichen Vorgaben nicht so genau nähmen, würden in Südtirol auch die „sinnlosesten italienischen Gesetze mit teutonischer Genauigkeit umgesetzt. Und geahndet.“

Dagegen lehnt Alessandro Urzì die Unabhängigkeit ab. Der 50jährige ist Landtagsabgeordneter und Vorsitzender der italienischen Rechtspartei Alto Adige nel cuore. Für ihn ist nicht das deutsche Kulturgut in Südtirol in Gefahr, sondern das italienische. Italien und Österreich hätten sich auf ein „System der Autonomie“ geeinigt, das der deutschen Sprachminderheit in Italien „weitgehende Anerkennung“ garantiere. „Heute wirft dies allenfalls schwerwiegende Fragen auf, welche Einschränkungen deshalb der zweitrangigen Minderheit in der Provinz Bozen, den Italienern, aufgezwungen werden.“ Die Forderung nach einer Unabhängigkeit Südtirols weist er zurück: „Das Recht auf Selbstbestimmung ist vom internationalen Recht für Völker und nicht für sprachliche Minderheiten vorgesehen.“ 

Deutlich radikaler ist die Gruppierung Casa Pound. Anfang Dezember erschien der Bozner Gemeinderat Andrea Bonazza in einem Pullover mit SS-Divisionswappen zur Ratssitzung. In einem Radiointerview sagte er: „Ich bin Faschist, warum nicht? Es ist nichts Schlimmes dabei. Mit Mussolini würde in Italien alles besser funktionieren.“ Südtirol? Gehört für ihn zu Italien. Die neofaschistische Bewegung sorgt mit Aktionen in Bozen immer wieder für Schlagzeilen. Im Oktober marschierten  ihre Anhänger mit schwarzen Hemden in Richtung Rathaus. Die deutschsprachigen Südtiroler fühlten sich an den „Marsch auf Bozen“ erinnert, mit dem Faschisten vom 1. bis 2. Oktober 1922 den deutschsprachigen Bürgermeister Bozens rechtswidrig absetzten. Doch auch Gedenkveranstaltungen der italienischen Gebirgsjäger, der Alpini, erinnern immer wieder an die schmerzlichsten Jahre der Geschichte Südtirols.

Und wie sieht es Südtirols Landeshauptmann (Ministerpräsident) Arno Kompatscher? Seine Südtiroler Volkspartei verlor bei der Landtagswahl 2013 erstmals seit 1948 die absolute Mehrheit. „Österreich ist mein Vaterland“, sagte er vor zweieinhalb Jahren der Kleinen Zeitung. Auf Veranstaltungen in Südtirol spricht er dagegen nicht von Unabhängigkeit, sondern von „Vollautonomie“. Grenzen spielten heute in Europa keine Rolle mehr, er setze sich deshalb für ein gemeinsames Tirol in einem Europa der Völker ein. 2018 stehen die nächsten Landtagswahlen an.





Der Weg zur Autonomie

Südtirol gehörte bis zum Ende des Ersten Weltkriegs als Teil der Grafschaft Tirol zum Kaiserreich Österreich-Ungarn. 1919 machte der Vertrag von Saint-Germain die Annexion völkerrechtlich verbindlich. Die darin versprochene Autonomie kam wegen der Machtergreifung der Faschisten allerdings nicht zustande. Die mehrheitlich deutschsprachige Bevölkerung wurde unterdrückt, Südtirol italianisiert. 1939 einigten sich Hitler und Mussolini auf die sogenannte „Option“. Deutschsprachige Südtiroler wurden gezwungen, entweder ins Deutsche Reich auszuwandern oder in ihrer Heimat zu bleiben und alle Minderheitenrechte zu verlieren. 85 Prozent entschieden sich für die Auswanderung, die wegen des Krieges jedoch nur zu einem Drittel umgesetzt wurde. Im Juni 1961 sprengten Freiheitskämpfer in der „Feuernacht“ 37 Strommasten, um international auf die Unterdrückung der Südtiroler aufmerksam zu machen. 1969 beschlossen die Südtiroler Volkspartei und der österreichische Nationalrat ein Maßnahmenpaket zum Schutz der Südtiroler in Italien, das 1971 vom italienischen Parlament verabschiedet wurde. Bis zur vollständigen Umsetzung dauerte es aber noch bis 1992.