Ich wollte mir nicht verlorengehen. Jeder hängt an sich. Also ich auch. Das eigene Ich zu verewigen sind rühmliche Taten vollbracht worden. Ich konnte nichts tun, um zu beweisen, daß ich an mir hängen durfte. Ich wollte mir nur nicht verlorengehen, das ist alles.“ Diese Sätze, die den innersten Antrieb seines Schaffens verraten, stehen fast am Ende von Martin Walsers neuem Buch, das wenige Wochen vor seinem 90. Geburtstag erschienen ist. Der Titel „Statt etwas oder Der letzte Rank“ hätte genügt, die Gattungsbezeichnung „Roman“ täuscht hingegen. Das süddeutsche Wort „Rank“ bezeichnet eine Kurve oder Wegkrümmung, aus der der Autor nun in seine letzte Lebensgerade einbiegt.
„Statt etwas“ bezeichnet hier ein eigenes Genre, das man höchstens umschreiben kann: Walser reiht Reflexionen, Assoziationen, Meditationen aneinander, die auch Bruchstücke einer verschlüsselten Autobiographie enthalten. Einige der 52 Kapitel bestehen lediglich aus knappen Versen. Walsers Sprache befindet sich jenseits der Prosa und klingt wie kristallene Musik. Häufig geht es um Verletzungen im Beruf und im Privaten. Man muß gar nicht alle Anspielungen bis ins letzte Detail verstehen, viel wichtiger ist, daß sich am Ende der Eindruck von Lebensweisheit und Gelassenheit mitteilt.
Martin Walser, 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren, mit einer Arbeit über Franz Kafka promoviert, gehört zu den letzten Zeitzeugen der legendären „Gruppe 47“, die vor fünfzig Jahren letztmalig tagte. Schon der 1957 veröffentlichte Roman „Ehen in Philippsburg“ entfaltet ein Grundmotiv seines Schaffens. Walser ist der Chronist der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (Helmut Schelsky), deren Protagonisten im Spannungsfeld zwischen Aufstiegswillen, Anpassung, Selbstverleugnung und Frustration agierten. Auch Walser hat neben großen Erfolgen tiefe Abstürze, rabiate Verrisse, Selbstzweifel und materielle Ängste erlebt. In der Novelle „Ein fliehendes Pferd“ (1978) und im Roman „Brandung“ (1985), die von Flucht- und Ausbruchsversuchen berichten, spiegelt sich auch viel Persönliches.
Das allein hätte ihm kaum den literarischen Rang verschafft, den er heute einnimmt. Der 2013 verstorbene Verleger und Publizist Wolf Jobst Siedler hat mehrfach geäußert, den Nachkriegsautoren – abgesehen von Uwe Johnson – wenig abgewinnen zu können, weil sie zu den deutschen Katastrophen nichts zu sagen wüßten und sich „mit Kleinbürgern im Rheinland, Fabriken in Württemberg und den unappetitlichen Affären der Provinz“ begnügten. Der Befund verblüfft zunächst, denn in den Büchern von Böll, Grass, Lenz und auch Walser – um die Bekanntesten zu nennen – sind der Krieg und der Nationalsozialismus als ein beständiges Hintergrundrauschen gegenwärtig.
Aus der Beschäftigung mit Walser ergibt sich, daß die Diagnose zwar im Prinzip, doch ausgerechnet auf ihn nicht zutrifft. Walser ist ein Sonderfall, weil er das Defizit, das Siedler benannte, erspürt und zu füllen versucht hat. Der von ihm so bezeichnete und thematisierte „BRD-Erfolgsmensch“ taumelt als ein Peter Schlemihl durchs Leben, dem sein Schatten, sprich: die eigene Geschichte, abgeschnitten worden ist. Das gängige Schuld- und Bewältigungsnarrativ, das nach einer kurzen Phase des Schocks und des „kommunikativen Beschweigens“ (Hermann Lübbe) den Kollektiv- und Individualgeschichten übergestülpt wurde, hat seine Selbstentfremdung verstärkt und gleichzeitig zu einer politischen Weltfremdheit geführt, deren Folgen heute brutal hervortreten.
Während seine Kollegen die geschichtspädagogische Großerzählung der Bundesrepublik variierten, hielt Walser ihr in dem autobiographisch getönten Roman „Ein springender Brunnen“ (1998) das Recht auf Authentizität entgegen: „Aber solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird. Wenn etwas vorbei ist, ist man nicht mehr der, dem es passierte. (...) Jetzt sagen wir, daß es so und so gewesen sei, obwohl wir damals, als es war, nichts von dem wußten, was wir jetzt sagen.“
Die Weigerung von tonangebenden Intellektuellen und Schriftstellern, die „deutsche Frage“ überhaupt noch als solche anzuerkennen, nahm Walser als Empathielosigkeit und unbewußte Autoaggression wahr. Seit den späten siebziger Jahren sprach er das nationale Thema aus der Überzeugung heraus an, daß es die private und gesellschaftliche Wirklichkeit wesentlich determinierte. Er weigere sich, die deutsche Geschichte „in einem Katastrophenprodukt“ – der gewaltsamen Teilung – enden zu lassen, erklärte er, und bekannte sich zu seinem „elementaren Bedürfnis“ nach in der DDR gelegenen Geschichts- und Kulturräumen. „Leipzig ist momentan nicht unser. Aber Leipzig ist mein. Aus meinem historischen Bewußtsein ist Deutschland nicht zu tilgen.“
Damit hatte er den linksliberalen Meinungskonsens aufgekündigt und zog sich den Unwillen seiner Schriftstellerkollegen, des Feuilletons und der DDR-Funktionäre zu. So kam es, daß Walser, der in den sechziger und siebziger Jahren als Sympathisant der Kommunistischen Partei gegolten hatte, plötzlich zur CSU-Klausurtagung geladen wurde, um über die nationale Frage zu referieren.
Noch vor dem Mauerfall erwarb er den schriftlichen Nachlaß eines gebürtigen Dresdeners, der 1945 als knapp 18jähriger den Feuersturm erlebt und darin seine Großeltern verloren hatte. Er hatte lebenslang unter den Erinnerungen gelitten und war 1987 an einer Überdosis Schlaftabletten gestorben. Aus seinen Erinnerungen formte Walser den Roman „Die Verteidigung der Kindheit“. Der Hauptfigur Alfred Dorn sind 1945 alle Zeugnisse seiner und der Familiengeschichte verbrannt. Das ganze restliche Leben strebt er danach, die Spuren der Vergangenheit zu sichern und ein Museum seines Lebens und vor allem der Kindheit zu errichten. Dorn ist die Antithese zu Zygmunt Rogalla aus Siegfried Lenz’ Roman „Heimatmuseum“, der die aus Masuren in den Westen geretteten Museumsexponate verbrennt, weil sie politisch mißbraucht werden.
Die drastische Schilderung des Dresden-Bombardements brachte Walser den Vorwurf ein, er „enteigne“ Schlüssel-elemente der spezifisch jüdischen Erfahrung. An anderer Stelle hieß es, er arbeite an der „Konstituierung eines deutschen Gedächtnisraumes jenseits von Auschwitz“. Das war ebenfalls als Vorwurf gemeint. Tatsächlich ist im Roman „Ohne einander“ vom „Tabutheater“ die Rede, das dazu diene, die Deutschen „im Stand der Schuld zu halten. Sie waren dann leichter beherrschbar.“ Gefangen in ihrer Geschichtsdogmatik, waren Walsers Kritiker außerstande, das innovative Potential und die sachliche Berechtigung seiner Erzählstrategie einzusehen.
In seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1998 in der Frankfurter Paulskirche sprach Walser sich gegen das Holocaust-Mahnmal in Berlin als die „Dauerpräsentation unserer Schande“ und gegen den Mißbrauch von Auschwitz als „Drohroutine“ zu „gegenwärtigen Zwecken“ aus. Seine Äußerungen führten zu heftigen Feuilleton-Debatten.
Im Roman „Tod eines Kritikers“, der auf den verfeindeten Starkritiker Marcel Reich-Ranicki (hier: André Ehrl-König) zielte, beschrieb er die Machtmechanismen im Kulturbetrieb und parodierte ihre zivilreligiöse Grundierung, worauf FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher ihm vorwarf, antijüdische Klischees zu bedienen und einen regelrechten Antisemitismusstreit lostrat. Walser konnte den Angriff souverän parieren, aber tatsächlich zählt der Roman zu seinen schwächeren Büchern, wobei die Schwäche aus Walsers Inkonsequenz bei der Bearbeitung der Geschichtsdogmatik herrührt. Ihr zivilreligiöser Kern nämlich blieb für ihn sakrosankt, was er hauptsächlich kritisierte, war dessen Veräußerlichung. Zur fälligen Historisierung der NS-Verbrechen hat Walser sich niemals, auch nicht in der Paulskirchenrede, durchgerungen. Entsprechend wirkt seine Kritik im Roman vordergründig, ja effekthascherisch – so machte er sich über Ehrl-Königs Redeweise lustig –, was seinen Kritikern unnötige Angriffsflächen bot.
In seinen Wortbeiträgen hat Martin Walser zuletzt verschiedene, auch politische Konversionen vollzogen. Wenn man auf die Neunzig zugeht, möchte man nicht mehr streiten, sondern Frieden schließen. Nicht alles, was Walser geschrieben hat, wird bleiben, aber manches eben doch, und das ist schon viel. Dazu zählen die wunderbaren Sätze aus seinem letzten Buch: „Also, Unrecht erleiden machte aus dir mehr, als du warst. Unrecht erleiden wurde deinem Wesen zum Reichtum. Und schon taten dir die, die im Recht lebten, leid.“ Glücklich, wer derart geläutert in das zehnte Dezennium seines Lebens geht.
Am 24. März feiert Martin Walser seinen 90. Geburtstag.
Lesungen: Martin Walser liest aus seinem jüngsten Roman „Statt etwas oder Der letzte Rank“ am 28. März um 19.30 Uhr im Schauspielhaus Düsseldorf, einen Tag später im Kölner Comedia-Theater und am 30. März im Kunstmuseum Bochum. Beginn ist jeweils um 20 Uhr. www.rowohlt.de
Martin Walser: Statt etwas oder Der letzte Rank. Rowohlt-Verlag, Reinbek 2017, gebunden, 176 Seiten, 16,95 Euro, als E-Book 14,99 Euro