© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/17 / 24. März 2017

Seine Wutausbrüche waren gefürchtet
Musikgeschichte: Eine Erinnerung an den großen italienischen Dirigenten Arturo Toscanini
Markus Brandstetter

Ein Witz über den Dirigenten Arturo Toscanini geht so: Toscanini dirigiert die New Yorker Philharmoniker mit der Konzertfassung von Isoldes Liebestod aus Wagners „Tristan“. Isolde soll in einem gehauchten Pianissimo sterben, aber Toscanini hat nun schon dreimal abgeklopft, weil ihm das Orchester immer noch zu laut ist. Der Maestro ist inzwischen so wütend, daß er nur noch schreit und tobt. Irgendwann beschließt das Orchester auf ein Zeichen des Konzertmeisters, überhaupt nicht mehr zu spielen. Da lächelt Toscanini und sagt: Jetzt ist es richtig, meine Herren.

Der italienische Dirigent Arturo Toscanini war nicht nur einer der größten Dirigenten aller Zeiten, er war auch ein cholerischer, zorniger Orchesterchef, bei dem Wutausbrüche und Beschimpfungen an der Tagesordnung waren. Der Geiger Yehudi Menuhin, der oft mit ihm musizierte, hat von Toscanini gesagt: „Ich kam mit Toscanini sehr gut aus, aber er glaubte, es gäbe in der Musik nur einen Weg – nämlich seinen.“ 

Dieser Weg begann im März 1867 in Parma, wo der spätere Dirigent geboren wurde und in bescheidenen Verhältnissen aufwuchs. Sein Vater war Soldat in Garibaldis Armee gewesen und verdiente danach sein Geld als Schneider. Toscanini war kein Wunderkind, aber er zeigte früh Begabung für die Musik und wurde von seinen Eltern auf das Konservatorium seiner Heimatstadt geschickt, das er schon mit neunzehn mit einem Diplom in Cello und Komposition abschloß.

Wie viele Dirigenten begann Toscanini als Orchestermusiker, aber auf einer Südamerika-Tournee sprang er in Rio de Janeiro nur Stunden vor einer Aufführung von „Aida“ für den Dirigenten ein, der hingeschmissen hatte. Bereits dieser erste Auftritt war ein spektakulärer Erfolg – Toscanini war in der Lage, die Oper, die er bislang nur aus dem Orchestergraben kannte, auswendig zu dirigieren.

Zurück in Italien bereitete er sich systematisch auf eine Karriere als Operndirigent vor und begann, an Opernhäusern quer durch Italien zu dirigieren. Toscanini ging durch die provinziell-gemütliche, schlampig-charmante Welt der italienischen Oper wie ein Feuer durch einen Heuschober. Er probte manisch, detailversessen und stets mit einem klaren Konzept im Kopf.

Bis zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war es an italienischen Opernhäusern üblich, daß die Orchester Opern entweder gleich vom Blatt spielten oder mit einer Probe auskamen, und die war nichts anderes als ein einfaches Durchspielen. Primadonnen und Tenöre veränderten ihre Partien nach Gusto und fügten in ihre Glanz-Arien eigenmächtig Verzierungen, Fiorituren und Kadenzen ein, eine Praxis, die Komponisten und Dirigenten nicht gefiel, welche sie aber tolerierten, um ihre Stars bei Laune zu halten. Mit all dem machte Toscanini Schluß. Die Primadonnen hatten nun das zu singen, was in der Partitur stand, die Orchester mußten getrennt nach Instrumentengruppen ihre Partien so oft proben, bis sie saßen, und wem das nicht paßte, der wurde von Toscanini so lange angeschrien, bis er oder sie es gerne tat. Oder rausflog.

Er führte die Abdunkelung des Zuschauerraums ein

Seine rigorose Arbeit hatte Erfolg. Die Qualität der italienischen Orchester stieg, das Repertoire der Opernhäuser wurde breiter und insbesondere um die Opern Richard Wagners erweitert, den Toscanini wie kein anderer in Italien heimisch machte. 1897 dirigierte er in Turin die italienische Erstaufführung des „Tristan“. Auch die zeitgenössischen italienischen Komponisten schätzten ihn: Leoncavallo vertraute Toscanini die Uraufführung des „Bajazzo“ (Mailand 1892), Puccini diejenigen von „La Bohème“ (Turin 1896), „La fanciulla del West“ (New York 1910) und „Turandot“ (Mailand 1926) an.

1898 wurde Toscanini künstlerischer Leiter der Mailänder Scala. Hier war er Intendant, Operndirektor, Chefdirigent und Regisseur in einer Person und verfügte damit über dieselbe Machtfülle, die Gustav Mahler zeitgleich (1897–1907) an der Wiener Hofoper hatte. Genau wie Mahler war Toscanini bemüht, mit Nachlässigkeit und Schlamperei aufzuräumen und altehrwürdige Traditionen durch höchste Standards zu ersetzen. So führte Toscanini die heute übliche Abdunkelung des Zuschauerraums in der Oper ein, damit die Zuschauer nicht miteinander plauderten, sondern sich auf Musik, Gesang und Bühnengeschehen konzentrierten.

Nach zehn Jahren an der Scala wurde Toscanini als Leiter an die New Yorker Metropolitan Opera berufen, deren bis heute andauernde Tradition der italienischen Oper er mitbegründete. Aber hier kam diesem Mann, der so vieles im Leben mit Härte und militärischer Strenge anging, etwas in die Quere, mit dem er mit Mitte vierzig wohl selber nicht mehr gerechnet hatte: die Liebe. Obwohl verheiratet und Vater von vier Kindern, begann Toscanini eine Affäre mit der jungen und schönen amerikanischen Sopranistin Geraldine Farrar. Als diese nach sieben Jahren Getuschel, Heimlichtuerei und Indiskretionen die Nase voll hatte und von Toscanini verlangte, daß der sich scheiden ließe, zog er die Reißleine: Er kündigte seinen Vertrag mit der Met und ging zurück nach Italien. Er soll angeblich gesagt haben: „Heiraten kann ich sie nicht, aufgeben will ich sie nicht, also muß ich New York verlassen.“

Zurück in Italien wurde er wieder Chef der Scala. Toscanini war genau wie sein Vater ein begeisterter Patriot, weshalb er sich 1919 als Kandidat für die Faschisten aufstellen ließ. Aber als er sah, was Mussolini mit Italien anstellte, wurde er fast über Nacht zu einem leidenschaftlichen Gegner und weigerte sich mehrfach, die faschistische Hymne „Giovinezza“ zu dirigieren. Obwohl einer der Lieblingsdirigenten des Bayreuther Wagner-Clans (1930 hatte er auf dem Grünen Hügel dirigiert), schlug Toscanini in bewußter Kritik am Antisemitismus der Nationalsozialisten 1933 die Einladung zu den Bayreuther Festspielen aus und dirigierte nach Hitlers Einmarsch in Österreich nie mehr bei den Salzburger Festspielen.

Rundfunkanstalt gründete extra für ihn ein Orchester

1929 berief das neuformierte New York Symphony Orchestra Toscanini zu seinem Chefdirigenten, und noch einmal ging der Maestro, froh, dem Faschismus zu entfliehen, über den großen Teich, bezog in New York ein schloßartiges Anwesen und formte die Ney Yorker in sieben Jahren zu einem der besten Orchester der Welt. Als Toscanini 1936, da war er fast siebzig, seine Laufbahn beenden wollte, bot die New Yorker National Broadcasting Company (NBC), eine amerikanische Hörfunk- und Fernsehanstalt, welche in den 1920er Jahren das erste landesweite Radio-Netzwerk der Vereinigten Staaten aufgebaut hatte, ihm an, extra für ihn ein Symphonieorchester aus dem Boden zu stampfen. Das Angebot war zu verlockend, um abzusagen: Toscanini blieb noch einmal fast zwanzig Jahre lang Chefdirigent des NBC-Orchesters und machte eine Fülle von Rundfunk- und Schallplattenaufnahmen, die Hörer in ganz Amerika erreichten.

Sein letztes Konzert – auf dem Programm standen ausschließlich Wagner-Stücke – dirigierte Toscanini Anfang April 1954. Er starb drei Jahre später, am 16. Januar, in New York; beigesetzt wurde er in Mailand

Toscanini war zu Lebzeiten der bekannteste Dirigent der Welt und der erste Popstar seines Fachs. Seine Interpretationen setzten Maßstäbe. Er hatte 600 Werke von 200 Komponisten in seinem Repertoire, die er alle auswendig dirigierte – was kein moderner Dirigent kann. Nur der russische Komponist Dimitri Schostakowitsch konnte Toscaninis Aufnahmen seiner Symphonien nicht ausstehen. Der Dirigent schickte dem Komponisten regelmäßig die neuesten Plattenaufnahmen seiner Symphonien, doch jener verschenkte sie stets, wie er seinem Biographen gestand, „an Leute, die ich nicht mag“. 

Arturo Toscanini  The Essential Recordings Box-Set mit 20 CDs Sony Classical 2017 www.sonyclassical.de