© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/17 / 24. März 2017

Als ein Sozialdemokrat die Freikorps lenkte
Unmittelbar nach Kriegsende 1918 übernahm der SPD-Politiker August Winnig die ambitionierte Aufgabe, das Chaos im Baltikum zu ordnen
Walter Rix

Der 1878 unter ärmlichen Verhältnissen als Sohn eines Totengräbers in Blankenburg (Harz) geborene August Winnig hatte sich nach entbehrungsreicher Jugend und bewegten Wanderjahren zu einem der führenden Vertreter der Gewerkschaftsbewegung im Kaiserreich emporgearbeitet. 

Aber in dieser Rolle war er mehr eine Ausnahmeerscheinung als ihr Repräsentant. Während Nikolaus Osterroth, Abgeordneter der Weimarer Nationalversammlung, seine programmatische Schrift „Vom Beter zum Kämpfer“ (1920) verfaßte, bewegte sich Winnig in die Gegenrichtung. Mehr dem deutschen Idealismus zuneigend als den gängigen sozialistischen Lehrmeinungen, nahm sein Verständnis von Sozialismus immer mehr religiöse Momente in sich auf und zeigte in den zwanziger Jahren unverkennbare Züge eines vitalistischen Pantheismus. Im Gegensatz zur urbanen Intellektualität der führenden Parteitheoretiker ging er von dem Naturerlebnis aus. 

In dem Bericht über seine geistige Entwicklung in den Jahren 1918 bis 1923 mit dem Titel Heimkehr (1955) verdichtet sich sein Verständnis von Sozialismus zur Formel „Sozialismus heißt nicht nehmen, sondern geben“ und „Der alte Sozialismus rief: wir wollen haben! Der neue wird sagen: wir wollen geben!“ Im Zentrum seines Sozialismus standen daher Heimatbindung, Überwindung des Klassenkampfes sowie die entschiedene Ablehnung des Materialismus und Internationalismus. Seinen Genossen war er damit alles andere als geheuer, denn er verfügte nach deren Ansicht über ein „gespaltenes Klassenbewußtsein mit bürgerlichen Rückständen“.

Winnig setzte neue Impulse für eine deutsche Ostpolitik

Am 14. November 1918 ernannte ihn die Revolutionsregierung zum „Generalbevollmächtigten des Reiches für die Baltischen Länder“, und am 24. Dezember 1918 berief ihn der Rat der Volksbeauftragten außerdem noch zum „Gesandten in außerordentlicher Mission bei der lettischen bzw. estnischen Regierung“. 

Man meinte, ein Sozialdemokrat würde wohl kaum in den Ruf kommen, imperiale Bestrebungen des Reiches im Baltikum weiterzuverfolgen. Auch war man nicht ganz ohne Hoffnung, daß sich der etwas unbequeme Winnig fern dem Berliner Machtzentrum in den heraufziehenden baltischen Unruhen totlaufen würde. Doch hatte man die Rechnung ohne die Fähigkeiten Winnigs gemacht. 

Allerdings sah sich der frisch ernannte Kommissar mit unlösbaren Problemen konfrontiert und fand sich zudem zwischen allen Fronten. Die im Baltikum stehenden Truppen, etwa 150.000 Mann der 8. Armee, mußte er zurückführen, aber er benötigte sie zugleich, um ein nach dem Abzug entstehendes Chaos zu verhindern. Stützte er sich zu sehr auf das deutsche Militär, dann setzte in Berlin die lautstarke Kampagne der USPD, der KPD und der Roten Fahne ein, er würde die alte imperialistische Ostpolitik fortsetzen. 

Wollte er seine Maßnahmen durch militärischen Einsatz durchsetzen, so fielen ihm vor Ort die revolutionär gesinnten Arbeiter- und Soldatenräte in den Rücken. Zwar war er auf die Zusammenarbeit mit den Militärs angewiesen, aber er erkannte, daß man angesichts der einsetzenden Veränderungen deren harte Linie nicht fortsetzen konnte. Dies wiederum rief den Argwohn der konservativen Kräfte hervor, die in dem Sozialdemokraten einen linksorientierten Verzichtler witterten. 

Im Gegenteil, Winnig war gewillt, die Rechte der baltischen Landstände und des deutschbaltischen Bürgertums mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen, aber er war weitsichtig genug, um zu erkennen, daß man deren Privilegien gegen die nationalen Ansprüche insbesondere der Esten und Letten nicht uneingeschränkt wiederherstellen konnte. 

Sein politischer Verstand sagte ihm, daß er dem leidenschaftlichen Anspruch der Letten und Esten nach Eigenstaatlichkeit Rechnung tragen mußte. Daraus resultierte jedoch eine gefährliche Gratwanderung zwischen deutschen und baltischen Interessen. Über allem lastete die drohende Revolution. Seit dem 5. November 1918 zeichneten sich unter der deutschen Marine in Libau, Windau und Reval revolutionäre Unruhen ab, die schnell auf die im Baltikum stehende 8. Armee übersprangen. Die Soldaten entglitten der Führung, verkauften Waffen sowie Heeresgut und nahmen Kontakt mit den Bolschewisten auf. 

Es war wie ein Vorspiel für den Einmarsch der Sowjettruppen in das Baltikum. Ein aus mehr als zehn Schiffen bestehendes britisches Geschwader unter Konteradmiral Edwyn S. Alexander-Sinclair lag in Riga vor Anker und fesselte ihn an die Versailler Entscheidungen. Auf Anordnung von Lloyd George warf man von hier aus ein scharfes Auge auf die baltischen Vorgänge. Dagegen mußte er sich soviel Entscheidungsfreiheit erkämpfen, daß er seine Verwaltungsmaßnahmen durchführen und militärischen Widerstand gegen die Rote Armee aufbauen konnte. Überdies liebäugelten insbesondere die lettischen Nationalisten mit der Entente und durchkreuzten daher vielfach die deutschen Maßnahmen.

Es war eine hoffnungslose Situation, und Winnig trat sein Amt mit einer kaum zu bewältigenden Bürde an. Aber er war entschlossen, seinen eigenen Weg einzuschlagen. Bereits in seiner ersten öffentlichen Erklärung als Generalbevollmächtigter bezeichnete er sich als, wie die Baltische Zeitung vom 25. November 1918 vermeldete, „Liquidator der alten Ostpolitik“. Und bei seinem Abschied vom Baltikum, um „Reichskommissar für Ost- und Westpreußen mit Sitz in Königsberg“ zu werden, erklärte er am 24. Januar 1919 in Libau öffentlich: „Als ich mir darüber Klarheit zu verschaffen suchte, wie denn nun die großen Linien der deutschen Ostpolitik zu ziehen seien, da war es mir klar, daß ich von der alten Ostpolitik nur wenig brauchen konnte.“ 

Geschickt stützte er sich allerdings auf die angetroffenen Verwaltungsstrukturen, die die Militärbehörden von Ober Ost im deutschen Besatzungsgebiet an der Ostfront geschaffen hatten. Um den Druck zu mildern, den die bisherige Militärverwaltung geschaffen hatte, und die Bevölkerung zu gewinnen, entließ er politische Gefangene, hob zahlreiche Verbote auf und erweiterte die zivilen Rechte. 

Rosa Luxemburg hätte ihn gern füsilieren lassen

Doch die Entwicklung der militärischen Lage bestimmte zunehmend seine Entscheidungen. Estland wurde erst Ende Februar 1919 wieder von der Roten Armee befreit. Riga, Winnigs Verwaltungssitz, war fast schutzlos den nahezu 20.000 Soldaten der Bolschewisten ausgeliefert. Die hier noch verbliebenen 4.000 Reichsdeutschen und die große Zahl an deutschbaltischen Flüchtlingen sollten durch nur 2.000 vielfach demoralisierte Soldaten der 8. Armee verteidigt werden. Erschwerend kam hinzu, daß die USPD in Berlin die Ansicht vertrat, der Brest-Litowsker Frieden sei ungültig und die sowjetische Besetzung des Baltikums damit gerechtfertigt. 

In dieser angespannten Situation gelang Winnig ein Kunststück: Indem er die Führung der Soldatenräte mit gezielt von ihm ausgewählten Leuten besetzte, konnte er erreichen, daß die Armee als Machtfaktor wieder in Erscheinung trat. Es zeigte sich jedoch, daß die militärischen Verhältnisse anders geordnet werden mußten. So drang er in Berlin auf den beschleunigten Abtransport der nicht mehr kampfwilligen Landsturmleute. Ersetzt wurden sie am 11. November 1918 durch die Baltische Landwehr, der jetzt auch Letten angehörten. Vom 7. bis 15. Dezember 1918 verhandelte er in Berlin mit Friedrich Ebert und General Wilhelm Groener von der Obersten Heeresleitung, um deren Einverständnis zur Anwerbung von Freiwilligen für die Bildung der „Eisernen Division“ zu gewinnen, deren Sollstand auf 25.000 Mann geplant war. 

Die Geburt des lettischen Staates wurde damit durch die unerwünschte deutsche Einwirkung beeinflußt, und die bürgerliche Regierung unter Karlis Ulmanis, die auf die Hilfe der Entente setzte, konnte sich nur widerwillig damit abfinden. Doch Winnig arbeitete mit kaltem Kalkül: Ohne militärischen Beistand der Deutschen hätten die Bolschewisten die bürgerliche Regierung einfach weggefegt. 

Zwei Wochen bevor die Sowjetarmee Riga einnahm, rang Winnig am 29. Dezember 1918 der lettischen Regierung einen Vertrag ab, in dem es unter Paragraph 1 heißt: „Die provisorische lettländische Regierung erklärt sich bereit, allen fremdstaatlichen Heeresangehörigen, die mindestens vier Wochen im Verbande von Freiwilligenformationen beim Kampf für die Befreiung des Gebietes des lettländischen Staates von den Bolschewiki tätig gewesen sind, auf ihren Antrag das volle Staatsbürgerrecht des lettländischen Staates zu gewähren“. 

Zweifellos schränkte dieser Vertrag die lettische Souveränität erheblich ein. Von deutscher Seite aus wurde das Staatsbürgerrecht so ausgelegt, daß es auch das Siedlungsrecht einschloß. Zehn Berliner Werbebüros für die Freikorps der Eisernen Division lockten daraufhin mit der Aussicht auf Siedlungsmöglichkeit zahlreiche Interessenten an. Die lettische Seite hingegen lehnte den Siedlungsanspruch zur Verbitterung der deutschen Baltikumkämpfer kategorisch ab.

Bei seinem zweiten Besuch in Berlin am 10. Januar 1919 geriet er mitten in die vom Spartakus ausgelösten Kämpfe. Bereits 1911 hatte er sich mit Rosa Luxemburg auseinandergesetzt, die ihm danach erklärte: „Sie sind prachtvoll aufrichtig! Auch ich bin es. Ich habe mir schon manchmal gedacht: den Genossen Winnig könnte ich einmal füsilieren lassen.“ Unmittelbar vor ihrer Ermordung am 15. Januar schickte sie ein Greifkommando aus, das ihren schon lange gehegten Wunsch verwirklichen sollte. 

Winnig hatte Glück, er befand sich zu Verhandlungen mit Staatssekretär Wilhelm Solf im Kriegsministerium. Dem Volksbeauftragten Gustav Noske schlug er vor, die Freiwilligen für das Baltikum, die in Dahlem stationiert waren, gegen die Spartakisten einzusetzen. Und noch eine Episode ergab sich bei diesem Besuch. Im Finanzministerium versuchte Eduard Bernstein, USPD-Mitglied und Beigeordneter im Schatzamt, ihn zu überreden, für einen gewissen Albert Einstein aus dem übriggebliebenen Vermögen der früheren deutschen Verwaltung im Baltikum 30- bis 40.000 Mark für die Drucklegung einer bahnbrechenden Arbeit freizugeben. Winnig lehnte ab und bemerkte später etwas süffisant: „So ging die Ehre an mir vorüber, in den Annalen der Wissenschaft als selbstloser Förderer der Einsteinschen Relativitätstheorie genannt zu werden.“ 

Nach der Räumung Rigas mußte Winnig der vorrückenden Roten Armee weichen und seinen Amtssitz zuerst nach Mitau und dann nach Libau verlegen. In dieser Zeit richtete er seine Kraft darauf, die Befreiung des Baltikums von der Herrschaft der Bolschewiki zu organisieren. Am 22. Mai 1919 setzte dann das „Freikorps von Medem“ über die Düna und befreite Riga gegen heftigen Widerstand. Bereits am 24. Januar 1919 hatte Winnig seine Tätigkeit als Reichskommissar in Königsberg aufgenommen. 

Der Ruf des fähigen Krisenbewältigers im Osten war ihm vorausgeeilt. Aber auch von hier aus nahm er auf die Baltikumpolitik Einfluß, denn das Allgemeine Oberkommando (AOK), Grenzschutz Nord, dem alle Baltikumtruppen unterstellt waren, hatte ebenfalls in Königsberg seinen Sitz. Die Teilnahme am Kapp-Putsch beendete seine Karriere. Fortan lebte er als Schriftsteller in Potsdam. 

Foto: Freikorps-Soldaten kehren aus dem Baltikum zurück, Berlin im Herbst 1919: Von allen Seiten beargwöhnte Ordnungspolitik