© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/17 / 24. März 2017

Im Chaos nach der Katastrophe
Ohne Friedensordnung: Der in Dublin lehrende Historiker Robert Gerwarth analysiert die blutigen Nachkriegskonflikte in Europa nach 1918
Dag Krienen

Das zuerst Ende 2016 unter dem Titel „The Vanquished: Why the First World War Failed to End, 1917–1923“ erschienene Buch des aus Deutschland stammenden und in Oxford promovierten Dubliner Professors Robert Gerwarth enthält keine sensationellen neuen Enthüllungen oder historische Details, die bislang völlig unbekannt waren. Es beruht im wesentlichen auf der Auswertung der Forschungsliteratur. Dennoch ist es wertvoll.
Eine konzise moderne Gesamtdarstellung der Nachkriegsentwicklung im Raum der Verlierermächte des Ersten Weltkrieges hat bislang gefehlt – wobei Gerwarth auch das zaristische Rußland sowie die nominellen „Sieger“ Italien und Griechenland einschließt. Diese empfanden den Sieg im einen Fall als „verstümmelt“, oder sie verspielten den Sieg durch ein militärisches Abenteuer in Kleinasien und zählten somit letztlich auch zu den Verlierern. Das Buch nimmt die Gesamtheit der von Gewalt begleiteten Umwälzungen von Mitteleuropa bis zum Ural, vom Balkan bis nach Kleinasien in den Blick, wo trotz der offiziellen Waffenstillstandsabkommen und der „Friedensschlüsse“ durch die Pariser Vorortverträge Staaten- und Bürgerkriege von 1918 bis 1923 weitere vier Millionen Todesopfer forderten.
Churchill bezeichnete sie in imperialistischer Ignoranz als bloße „Kriege der Pygmäen“. Es waren indes enthemmte Gewaltexzesse, wie es sie in Europa seit den Religionskriegen des 17. Jahrhunderts nicht mehr gegeben hatte. Statt klassischer „gehegter“ Kombattantenkriege kam es nun zu existentiellen Konflikten, in denen ganzen Klassen oder Ethnien die Ausrottung drohte. Hier entstand bereits die genozidale Logik und Praxis, die den Zweiten Weltkrieg prägte.
Gerwarth verwirft die „Brutalisierungsthese“ von George Mosse, wonach die allgemeine „Verrohung“ in Militär und Gesellschaft während des Ersten Weltkriegs maßgebend war. Vielmehr war es die Art, wie der Krieg von 1914 für die Verlierer zu Ende ging beziehungsweise nach 1918 eben zunächst nicht zu Ende ging, die die „Pygmäenkriege“ von 1917 bis 1923 zum Inkubator der Schrecken des Zweiten Weltkriegs werden ließ.
Daß die Verlierer des Weltkrieges, Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien, die Türkei und mittelbar auch Rußland, in den ihnen aufgezwungenen Friedensverträgen meist wie „Schurkenstaaten“ behandelt wurden, spielte dabei eine gewisse Rolle. Weitaus wichtiger waren für Gerwarth aber zum einen die Oktoberrevolution in Rußland und ihre Folgen, und zum anderen der Untergang der großen Vielvölkerimperien in Ost- und Südosteuropa. Zusammen sorgten sie dafür, daß die ursprünglich vom Krieg verursachten enormen sozialen und nationalen Spannungen nach 1918 nicht abgebaut, sondern noch weiter verschärft wurden.
In diesem Raum mußten die Menschen zwischen 1917 und 1923 erleben, daß bislang selbstverständliche Grundlagen ihres Lebens wie ihre staatliche, ethnische und auch soziale Zugehörigkeit radikal, oft gewaltsam sowie vielfach gegen ihren Willen geändert oder doch in Frage gestellt wurden. Bei den Überlebenden blieb deshalb auch nach 1923 ein Gefühl der latenten Bedrohung, sozialer und physischer Existenz-ängste, Ressentiments, Verbitterung und Rachsucht zurück, die nach dem Ende der kurzen wirtschaftlichen Erholungsphase von 1924 bis 1929 wieder wirkmächtig wurden.
Die Auflösung der Vielvölkerreiche, denen Gerwarth Entwicklungschancen einräumt, und ihre Ersetzung durch viele neue Nationalstaaten, die de facto oft nur Mini-Vielvölkerreiche waren, stellte in seinen Augen einen gravierenden Fehler dar, weil dadurch keine Probleme gelöst wurden, sondern eine Vielzahl neuer Reibungsflächen und Streitfelder entstand.
Daß das Hamburger Abendblatt von einer „Buch gewordenen Warnung an alle Nationalismus-Gläubigen heute“ spricht, stellt indes eine arge Verkürzung dar. Gerwarth hebt auf der anderen Seite hervor, daß die Oktoberrevolution, deren Protagonisten sich ihrerseits gegen eine Welt von realen und eingebildeten Feinden behaupten zu müssen glaubten, zur Brutalisierung der Gewaltanwendung erheblich beitrug. Die russischen Emigranten und Flüchtlinge, zeitweise 500.000 allein in Deutschland, nährten durch wahre und falsche Schauergeschichten in ganz Europa die Bolschewistenfurcht und damit den Aufstieg ebenso gewaltbereiter antibolschewistischer Bewegungen. Die Argumentation Ernst Noltes in diesem Kontext zu benennen oder auch nur zu zitieren oder gar im Literaturverzeichnis aufzuführen, traut sich Gerwarth allerdings nicht.
Anerkennenswert ist aber, daß Gerwarth die Konflikte der Jahre 1918 bis 1923 sachlich, nach wertungsfreier Ursachenanalyse und ohne die hierzulande allzu bekannte Tendenz zur einseitigen moralischen Aburteilung einer bestimmten Seite beschreibt. Dies gilt auch für den Aufstieg diverser autoritärer Regime, von der bulgarischen Königsdiktatur über den italienischen Faschismus bis zum Kemalismus und indirekt auch dem Nationalsozialismus, ein Aufstieg, der ohne die vorangehenden tiefgreifenden Zerrüttungen der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg eben nicht möglich gewesen wäre. Nicht so sehr das Versprechen einer Vergeltung für die erlittenen Niederlagen, sondern vor allem das Gerieren als Ordnungsmächte gegen bestehendes oder erneut drohendes Chaos verhalf ihnen zu Macht und Akzeptanz bei ihren Völkern.
Gerwarths übergreifende Zusammenschau auf die Besiegten von 1918 ist nicht nur aufgrund ihrer Materialfülle und ihrer erfreulichen Abstinenz in Sachen moralischer Verdammung eine lohnende Lektüre. Die vergleichende Perspektive erlaubt auch die Einordnung vieler historischer Phänomene in übergreifende Zusammenhänge, statt sie als unhintergehbare „Singularitäten“ behandelt zu sehen. Ein in der Zeitgeschichte selten gewordener Genuß.

Robert Gerwarth: Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs. Siedler Verlag, München 2017, gebunden, 480 Seiten, Abbildungen, 29,99 Euro