Martin Luder schrieb sich erst nach dem Thesenanschlag, als er von vielen als Befreier gefeiert wurde, Luther, in Anlehnung an das griechische Wort eleutheros, der Freie. Es war ein langer Weg, den er zurücklegen mußte, um zur Freiheit in Gott zu gelangen.
Nach innen führte dieser geheimnisvolle Weg. Wie es der Heilige und Kirchenvater Augustinus jedem, der ein Christ werden wollte, empfahl: Gehe nicht nach draußen, gehe in dich zurück, im inneren Menschen wohnt die Wahrheit, die frei macht. Heimo Schwilk schildert in seiner biographischen Studie über Luther das beharrliche und tapfere Werben Luthers um die Gnade Gottes. Er fand nach vielen Prüfungen bis hin zur Verzweiflung den gnädigen Gott, den er suchte.
Das heftige Drama zwischen ihm und Gott führte zu dem, was wir Reformation nennen. Diese hatte Luther anfänglich nicht im Sinne. Ihm ging es gar nicht so sehr darum, einen empörenden Sittenverfall in einer verweltlichten Kirche abzustellen, wie es immer wieder heißt. Ihn bekümmerte vielmehr, wie viele Priester aus Unkenntnis des lebendigen göttlichen Wortes, das Christus ist, die Achtung vor der Wahrheit verloren hatten, die sie verkündigen sollten. Es half daher gar nichts, ein altes Gebäude einzureißen und auf dem Trümmergrundstück ein neues zu errichten. Es mußte eine innere Umkehr erreicht werden unter den Hirten, damit möglichst jeder in der Herde die Gegenwart Gottes in seinem Herzen als befreiende Kraft erlebte.
Luther dachte nicht an Kollektive und Abstraktionen wie die Kirche oder die Menschheit. Für ihn stand der Einzelne und dessen Drama mit Gott im Mittelpunkt, was bedeutete, die Sprache allmählich zu lernen, in der sich Gott an jeden persönlich wendet, um fähig zu sein, darauf angemessen antworten zu können. Einzelne empörten sich gegen Gott: Adam, Eva und Kain, der seinen Bruder erschlagen hatte. Die Geschichte unter Menschen fängt mit Verrat und Brudermord an. Die Geschichte wandelt sich zur Heilsgeschichte, weil ein Einzelner alle irrenden und schwankenden Einzelnen erlöst: Jesus Christus. Nicht die Kirche kann den Weg ins Freie weisen; der eröffnet sich jedem, der mit Hilfe des Heiligen Geistes auf Gott hört und dem Mittler zu seiner Gnade folgt, seinem Sohn Jesus Christus. Die Reformation und rettende Revolution findet in jedem Einzelnen statt. Ein persönlicher Gott redet mit ganz unterschiedlichen Personen als ihr Freund, um sie herauszureißen aus allem, was sie schuldig macht in dieser Welt, dem Spielplatz des Bösen, der überall mit seinen Verlockungen tätig ist.
Der Böse, der Fürst der Welt, wirkt so verführerisch, weil er mit der pompa diaboli auftritt, die glänzt, betäubt und blendet und die göttliche Sonne der Gerechtigkeit überstrahlen möchte. Wer dem Werben des ihm schmeichelnden Bösen erliegt, kann den Zorn des großmütigen und geduldigen Gottes erregen. Ihm ist dann jeder Zugang versperrt zu jenen, die in sich selbst versunken sind, hingegeben all den Begehrlichkeiten, die von böser Lust erweckt, den Ehrgeiz, die Eitelkeit und das Vertrauen auf die eigene Vernunft beflügeln. Alles moralische Handeln scheint nur gut, wenn es vom Glauben erfüllt ist. Der Glaube allein rettet den zum Bösen geneigten Menschen. Jeder muß sich wandeln in der Nachahmung des liebenden Herrn Jesus Christus. Das setzt allerdings Gehorsam voraus. Freiheit und Gehorsam waren für den Christen Martin Luther kein Gegensatz. Vielmehr befreite der Gehorsam gegenüber Gott, der Verzicht, nach eigenem Willen zu leben, überhaupt erst zu Selbständigkeit und zu Sicherheit vor dem Trug der Wirklichkeiten.
In Übereinstimmung mit seinem gnädigen Gott kann und muß sich jeder nach außen wenden, um im Staat und in der Gesellschaft heilsam tätig zu werden, auch in der sichtbaren Kirche als weltlicher Organisation. Der Staat, die Kirche, alle gesellschaftlichen Einrichtungen sind Äußerlichkeiten, zwar notwendig, um eine Ordnung zu ermöglichen, die insgesamt von Gott gewollt, doch insgesamt nie gottgefällig sein kann, weil immer verstrickt in Unzulänglichkeiten und Überheblichkeiten. Die Vollkommenheit erreicht ein Heiliger, ihr nähert sich an, wer danach trachtet, sich in den Willen Gottes zu schicken. Doch kein Staat und auch keine Kirche sind heilig. Sie sind nützliche, unvermeidliche und meist sehr ärgerliche Veranstaltungen.
Luther hält jeden dazu an, ein lo-yaler Staatsbürger zu sein. Unruhen und Ungehorsam verurteilte er, weil er darin böse Überheblichkeit und Selbstgerechtigkeit vermutete. Der Christ kann mahnen und er darf sich wehren, wenn der Staat mit seiner Buchstabenwahrheit ihn in seiner innersten Freiheit bedroht, der in Christus personifizierten lebendigen Wahrheit zu folgen. Daß ein jeder dem ewigen Gott mehr gehorchen muß als irgendwelchen beliebigen und wechselnden Obrigkeiten mit ihren jeweiligen Übereinkünften und Spielregeln sollten die Staatsmänner nicht vergessen.
Es lag Luther völlig fern, Staat und gesellschaftliche Organisationen, Notbehelfe in dieser immer von neuen Nöten geplagten Welt, zu zivilreligiösen Wertegemeinschaften zu überhöhen. Heimo Schwilk redet klar und gewandt von Luthers Glauben und von Luther als Evangelist und Erzieher zur Ergebenheit in die offenkundige Wahrheit. Er spricht von dem, was Luther belebte und was jeden Christen zu allen Zeiten begeistern sollte. Der dankbare Leser darf sich, gut lutherisch – und auch gut katholisch –, seine eigenen Gedanken machen, warum dieser Luther des Glaubens heute vielen Pfarrern meist peinlich ist. Sie haben in Zeiten des Primats der Politik Angst vor dem eleutheros, dem befreienden Luther, der drastisch an die Freiheit eines Christenmenschen erinnert. Heimo Schwilk ängstigt sich nicht.
Heimo Schwilk: Luther. Der Zorn Gottes. Karl Blessing Verlag, München 2017, gebunden, 455 Seiten, Abbildungen, 24,95 Euro