Am Ende von Yuval Noah Hararis gefeiertem Bestseller „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ (Original von 2011) skizziert der Autor drei für das Dasein der Menschen heute wesentliche Forschungsgebiete: Biotechnik, Technik der Cyborgs (Wesen aus organischen und anorganischen Teilen) sowie die Entwicklung von nichtorganischem Leben.
Dieser fulminante Schluß dient dem israelischen Historiker als Ausgangspunkt für eine großangelegte Fortsetzungsgeschichte über die Welt im dritten Jahrtausend. Im ersten der drei Teile arbeitet er die maßgebliche Zäsur der Weltgeschichte, von ihm „Anthropozän“ genannt, heraus. Kriege, Hunger und Krankheiten waren zu allen Zeiten Geißeln der Menschen, die heute tendenziell an Bedeutung verlieren. Die neue Agenda liegt offen zutage: „zunehmendes Glück“ und die Aussicht auf Unsterblichkeit. Der wortmächtige Erzähler versteht es, die Wandlungsprozesse des Lebens am Beispiel wichtiger Statussymbole wie dem vom Menschen stets unterschiedlich kultivierten Rasen aufzuzeigen, die nur auf den ersten Blick abseitig wirken. Harari versäumt nicht, auf die Nachteile dieses Einschnitts hinzuweisen: die massive Umgestaltung der Natur und die Ausrottung zahlreicher Tier- und Pflanzenarten.
Im zweiten Abschnitt stellt der Verfasser heraus, wie die humanistische Umwälzung verläuft, die mehrere Varianten erzeugt (sozialistische, liberale und evolutionäre). Sie sind tief von herkömmlichen religiösen Daseinsdeutungen getrennt. Den Rahmen hierfür bildet die kognitive Revolution, die vor ungefähr 70.000 Jahren begann und dem Menschen ermöglichte, die Welt umzugestalten – ein Prozeß, der Zeiträume wie die landwirtschaftliche Umwälzung über Jahrtausende ebenso umfaßt wie die vergleichsweise kurze Phase wissenschaftlicher Umbrüche.
Der Mensch allein ist es nunmehr am Ende dieser Wandlungen, der der Welt einen Sinn verleiht. Priester und Götter werden ungeachtet fortbestehender Einflüsse zurückgedrängt. Im Zuge dieser Neuausrichtung kommt es nicht selten zur Ersetzung alter religiöser Fiktionen durch neue, beispielsweise nationalistische und monetäre. Der Homo sapiens braucht weiterhin Mythen. Gegenwärtig ist besonders der „Mythos Wissenschaft“ attraktiv. Harari verweist darauf, daß dieser immerhin in der Lage sei, das Dasein unserer Spezies angenehmer zu gestalten. Er verdeutlicht die moderne Perspektive mit einer Fülle an Belegen, besonders aus dem künstlerischen, literarischen und filmischen Bereich.
Auch der abschließende dritte Abschnitt („Homo sapiens verliert die Kontrolle“) hat es in sich. Der Schlüsselbegriff für eine Grundtendenz, die das Dasein in kaum vorstellbarer Weise verändert, lautet: Algorithmus. Über die allerlängsten Epochen der Geschichte dominierte dessen biologisch-organische Ausprägung. Selbst menschliche Emotionen können algorithmisch interpretiert werden. Zunehmend findet heute indessen eine Ersetzung organischer durch technisch-künstliche Algorithmen statt. Letztere erweisen sich in vielfacher Hinsicht als überlegen. So entsteht der Homo deus, der gesünder, langlebiger und intelligenter auftritt als sein obsolet anmutender Vorgänger.
Immer weniger erscheint der herkömmliche Mensch dem Menschen als gefährlichster Wolf; vielmehr droht Künstliche Intelligenz sein Hauptfeind zu werden. Sind wir Menschen lediglich organische Datenverarbeitungsmaschinen, die durch technische substituierbar sind? Derartige Fragen werden am Ende gestellt. Biotechnologische Algorithmen und solche, die durch den Computer generiert werden, verschmelzen zusehends. Sie bilden schon jetzt den hauptsächlichen Motor der Geschichte. Der Mensch hat daran höchstens noch marginalen Anteil.
Solche Entwicklungen, die den Menschen abgehängt erscheinen lassen, werden als „posthumanistisch“ bezeichnet. Heute erleben wir die Konkretisierung dieses Schlagworts, wohin wir auch blicken. Während „Bruder Robi“ seinen Siegeszug fortsetzt – der Erfolg der von Google DeepMind entwickelten Software AlphaGo über den humanen Großmeister des Spieles „Go“ lieferte kürzlich ein neues Beispiel –, steigen alte Deuter des Daseins wie die herkömmlichen Religionen weiter ab. Dies gilt parallel ebenso für den Liberalismus, der die moderne Welt im Pakt mit den Wissenschaften lange beherrscht hat.
Hararis spannender, eloquenter und manchmal überaus zugespitzter Überblick über grundlegende Trends in Gegenwart und Zukunft zählt zu den wichtigsten Sachbuchpublikationen dieses Frühlings. Auf die globalen Diskussionen, die diese Schrift hervorrufen wird, darf man gespannt sein.
Yuval Noah Harari: Homo Deus. Eine Geschichte von morgen. Verlag C.H. Beck, München 2017, gebunden, 576 Seiten, 24,95 Euro