© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/17 / 24. März 2017

Frankreichs Spaltung ist nicht zu kitten
Der französische Sozialwissenschaftler Gilles Kepel erklärt, warum am Umgang mit dem Islam das gesellschaftliche Gefüge unseres Nachbarlandes zu zerbrechen droht
Jürgen Liminski

Gilles Kepel berührt den Lebensnerv Frankreichs. Jede Gesellschaft der freien Welt hat ihre Brüche, historische, soziale, politische. Das ist eine logische Folge des freiheitlichen und pluralistischen Systems. Die Frage ist, ob diese Brüche so tief sind, daß die Klammer der Gesetze nicht mehr ausreicht, um die Gesellschaft zusammenzuhalten. Kepels Analyse über den Bruch und Frankreichs gespaltene Gesellschaft spürt diesem Zusammenhalt nach. Es ist das Verdienst dieses Buches, die Realität schonungslos aufzuzeigen: Der Bruch von heute ist nicht zu kitten.
Nach Kepel besteht der Bruch darin, daß der Dschihadismus, der radikale Islam, die Gesetze der freien Welt nicht anerkennen will, das auch nicht kann, und daß ein Teil des traditionellen französischen Establishments sich mit dem Islam gemein macht, ihn sogar benutzen will, um eine neue Klammer für den Staat zu formen. Dieser Teil des politisch-medialen Establishments steht links und zwar in der Tradition des reformistischen Sozialismus, aber mit den immer noch nicht überwundenen revolutionären Elementen. Die Sozialisten Frankreichs haben eben kein Godesberg erlebt oder erfahren.
Man mag an Kepels These bemängeln, daß er das Buch zu schnell aus einer Serie von Interviews garniert mit einem längeren Vorwort zusammengeschustert hat oder daß er in dem Vorwort oder einem zusätzlichen Kapitel nicht tiefer in die Geschichte des Bruchs hinabgestiegen ist, also bis zur Großen Revolution 1789, der eigentlichen Zäsur in der Geschichte der Nation. Denn in der Zeit der Großen Revolution entstanden nicht nur die ideologischen Bruch-Begriffe von links und rechts in der damaligen Nationalversammlung, sondern auch die soziologischen Verwerfungen zwischen Bürgergesellschaft und Revolutionären, zwischen Umbruchgenossen und Loyalisten, zwischen System- und Königstreuen und egalitär gesinnten Sozialisten. Diesen Bruch hat Frankreich nie heilen, immer nur mit Integrationsgestalten übertünchen und klammern können. De Gaulle hat deshalb das Präsidialsystem geschaffen, den republikanischen Monarchen.
Etliche Autoren, allen voran der große Staatsrechtler Maurice Duverger, haben auf diese Zäsur in der Geschichte der Grande Nation und ihre fortdauernde Wirkung im politischen Leben – es gab nie eine breite Mitte – hingewiesen. Dieses Kapitel wird Kepel noch in einem weiteren Buch schreiben müssen. Das Manko schmälert aber nicht das Verdienst des vorliegenden Buchs. Es beschreibt die Aktualität der Bruchgeschichte. Kepel zeigt auf, daß bei der Linken zumal Schuldkomplexe wegen der kolonialen Vergangenheit zu Verdrängungsmechanismen geführt haben, die blind machen gegenüber den totalitären Gefahren des Islam. Mehr noch, die Linke sieht in den Muslimen der Banlieues und im Islam allgemein ein neues Proletariat. Kepel folgert: „Sie werden als abstrakte und einheitliche Kategorie verstanden, deren soziale, kulturelle oder gar religiöse Ausdifferenzierungen, wie es sie in jeder menschlichen Gemeinschaft gibt, außer acht gelassen und für den islamistischen Ausdruck einer Minderheit gehalten werden, die die Slogans der Salafisten, Muslimbrüder und Dschihadisten vermischt und deren Authentizität um so größer ist, als sie den Westen anprangert.“
Für die deutsche Ausgabe des Buches hat Kepel in einem eigenen Kapitel einen hochinteressanten Vergleich zwischen Frankreich und Deutschland mit Blick auf diese neue „proletarische Ersatzklasse“ gezogen. Er erklärt, warum rote und grüne Parteien versucht sind, sich aus ähnlichen historischen Verdrängungsmechanismen dem Islam anzunähern, ja sich des Islams anzunehmen als Teil der westlichen Gesellschaft, ohne den totalitären Kern dieser religiösen Ideologie wahrzunehmen.
In diesem Zusammenhang ordnet er erhellend die Begriffe „Islamophobie“ oder „Antisemitismus“ ein, zieht gemeinsame Linien zur Entstehung der EU aus dem deutsch-französischen Kern und spart nicht mit Kritik an der Politik insgesamt, gerade auch der deutschen, der er im besten Fall Naivität vorwirft, hier und da auch ein gewisses Maß an Komplizenschaft mit den Vertretern des Islam in Deutschland. Dieses Kapitel allein lohnt schon die Lektüre. Die anderen, vor allem die Radiointerviews illustrieren mit einzelnen Aspekten die Hauptthese: Der radikale Islam, der von anderen Formen immer schwerer zu trennen ist, weitet und vertieft den Bruch der Gesellschaft.
Gilles Kepel: Der Bruch. Frankreichs gespaltene Gesellschaft. Verlag Antje Kunstmann, München 2017, broschiert, 240 Seiten, 20 Euro