© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/17 / 31. März 2017

„Hoffentlich nicht der Amri“
Anschlag vom Breitscheidplatz: Im Fall des Weihnachtsmarkt-Attentäters bringen neue Erkenntnisse das Düsseldorfer Innenministerium in Bedrängnis
Peter Möller

Bis Ende 2016 konnten sich die deutschen Sicherheitsbehörden bei der Terrorabwehr einer nahezu weißen Weste rühmen. War es ihnen doch gelungen, in den vergangenen Jahren zahlreiche potentielle Attentäter zu enttarnen, mit dem Ergebnis, daß Deutschland von einem stets befürchteten und erwarteten großen Anschlag mit vielen Toten verschont blieb. 

Bis zum 19. Dezember 2016, als der 24 Jahre alte Tunesier Anis Amri auf dem Berliner Breitscheidplatz an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche mit einem Lkw zwölf Menschen tötete. Schnell wurde bekannt, daß die Behörden auch Amri längst schon im Visier hatten und als gefährlich einstuften. Allerdings habe es keine Hinweise auf konkrete Anschlagspläne gegeben. Doch diese Darstellung bekommt immer mehr Risse. Am vergangenen Wochenende berichteten mehrere Medien unter Berufung auf interne Dokumente, daß die Sicherheitsbehörde die Politik eindringlicher als bislang bekannt vor Amri gewarnt habe.

So geht laut RBB aus einem schon Anfang 2016 vom Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, persönlich unterzeichneten Papier hervor, Amri versuche offensiv, „Personen als Beteiligte an islamistisch motivierten Anschlägen im Bundesgebiet zu gewinnen“. Er beabsichtige, „sich mit Schnellfeuergewehren des Typs AK-47 zu bewaffnen, die er über Kontaktpersonen in der französischen Islamistenszene beschaffen könne“, heißt es in dem sogenannten Behördenzeugnis. 

Die Tatsache, daß Amri dennoch unbehelligt blieb, führt zu dem Verdacht, daß die Behörden ihn geschützt haben könnten. Denn der Tunesier wurde offenbar von einem in die Islamistenszene in Nordrhein-Westfalen um den Prediger Abu Walla eingeschleusten Ermittler des Staatsschutzes abgeschöpft. Diesem soll Amri bereits Ende 2015 offenbart haben, daß er „unbedingt für seinen Glauben kämpfen“ wolle. Das Landeskriminalamt (LKA) NRW hat den späteren Attentäter zu diesem Zeitpunkt bereits fest im Blick. Den Ermittlern bleibt dabei nicht verborgen, daß der junge Mann, der über 14 Alias-Namen verfügt, in unterschiedlichen Städten im Ruhrgebiet Sozialhilfe bezieht und daneben vom Fahrraddiebstahl bis zu Körperverletzung zahlreiche weitere Straftaten begeht. Dennoch enden etwa ein Dutzend Ermittlungsverfahren immer gleich: Anis Amri bleibt in Freiheit.

Doch ganz ohne Konsequenzen blieb das auffällige Verhalten Amris dann doch nicht. Im März 2016 warnte das Düsseldorfer LKA nach einem Bericht der Bild am Sonntag vor dem Tunesier und regte seine Abschiebung an. In einem vertraulichen Schreiben an das Ministerium habe das LKA gewarnt, Amri könnte einen Anschlag planen, berichtete das Blatt. Zur Begründung hieß es vom LKA, nach den bisher vorliegenden Erkenntnissen sei damit zu rechnen, „daß durch Amri eine terroristische Gefahr in Form eines (Selbstmord-)Anschlages ausgeht.“ 

Die Ermittler präsentierten als Beleg unter anderem ein Chat-Protokoll vom 2. Februar 2016. Darin kündigte Amri an, in Deutschland „eine Schwester“ heiraten zu wollen und benutzte zudem den Begriff „Dougma“ – nach Angaben der LKA-Beamten eine „Metapher für einen Selbstmordanschlag.

Angesichts dieser neuen Details wächst erneut der Druck auf den nord-rhein-westfälischen Innenminister Ralf Jäger (SPD). Er hatte bislang wiederholt behauptet, es sei rechtlich nicht möglich gewesen, eine Abschiebung anzuordnen. Die neuen Details verstärken die Zweifel daran. An diesem Mittwoch war Jäger als Zeuge vor dem Amri-Untersuchungsausschuß des Düsseldorfer Landtages geladen. 

Bereits Ende vergangener Woche hatte der Chef des LKA, Uwe Jacob, vor den Abgeordneten ausgesagt, daß seine Behörde ein großes Interesse daran gehabt hätte, Amri unschädlich zu machen. Für wie gefährlich das LKA den Tunesier hielt, machte Jacob anhand einer kleinen Geschichte deutlich. Er habe seine Mitarbeiter nach ihrer ersten Reaktion auf den Anschlag gefragt. Diese hätten geantwortet: „Der erste Gedanke war: Hoffentlich war es nicht der Amri, an dem wir so lange dran waren“, berichtete der LKA-Chef.