© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/17 / 31. März 2017

Denkanstöße für ein „kollektives Wachwerden“
Frühjahrstagung: Publizisten, Politiker und Juristen debattieren mit Thilo Sarrazin über die Verfehlungen deutscher Bundespolitik
Michael Paulwitz

Thilo Sarrazin ist einer der großen Debatten-Anstoßer in unserem Land.“ Für den Sprecher des „Vereins zur Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit und der bürgerlichen Freiheiten“, David Bendels, Grund genug, den prominenten Sozialdemokraten und Buchautor als Hauptredner der ersten gemeinsamen Veranstaltung mit dem Studienzentrum Weikersheim einzuladen. 

500 Gäste hatten sich angemeldet, nur ein Viertel von ihnen fand Platz im trutzigen Saal der Burg Lichtenberg in Oberstenfeld im württembergischen Landkreis Ludwigsburg. Was bei der Frühjahrstagung der beiden konservativen Denkfabriken verhandelt wurde, war weit weniger idyllisch als der weite Blick von der Burg in die Weinregion Bottwartal. 

Bevor Thilo Sarrazin das politische „Wunschdenken“ analysierte, das auch nach den Worten von Weikersheim-Präsident Jost Bauch nicht erst mit der Asylkrise begonnen hat, gab es eine Reihe prominenter Grußworte. Die baden-württembergische AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel, die sich als eifrige Leserin der Werke Sarrazins und des Juristen Karl-Albrecht Schachtschneider, ebenfalls Weikersheim-Präsident, zu erkennen gab, kam ebenso zu Wort wie der „CDU-Wechsler“ Maximilian Krah aus Dresden, der die Rolle des Vereins als „Feuerstelle“ für eine neue Aufbruchstimmung im Land hervorhob.

Auch Autoren und Medien machen Politik

Der ausbleibende Aufstand gegen die fortwährenden Rechtsbrüche der Regierenden lasse ihn an der Zivilgesellschaft in Deutschland zweifeln, warf der Berliner Publizist Nicolaus Fest ein. JUNGE FREIHEIT-Chefredakteur Dieter Stein setzt darauf, daß es im Herbst endlich wieder eine Opposition im Bundestag geben könne, wenn die AfD sich als „realpolitische Kraft der Vernunft mit gesellschaftlicher Verankerung“ etabliere – ohne „180-Grad-Wende und Systemwechsel“. In der gesellschaftlichen Wiederbelebung von Meinungsbildung und Debattenkultur sieht auch der veranstaltende Verein seine Mission, für die er mittlerweile 12.000 Unterstützer gewonnen hat. 

Bendels betonte den überparteilichen Charakter des Vereins, der ein Gegengewicht zur links-grünen Ideologisierung schaffen wolle. Man reflektiere die Lage mit einem Sozialdemokraten, aus Österreich sei die FPÖ-Politikerin Barbara Rosenkranz angereist. Gerne hätte man auch CDU-Konservative eingeladen, meinte Bendels, aber die gebe es nicht mehr. Im badischen Schwetzingen tagen zur selben Zeit nicht weit entfernt einige Unentwegte, die einen „Freiheitlich-konservativen Aufbruch“ in der Union ins Leben rufen wollen.

Was wie die Torheit der Regierenden aussehe, ist für Sarrazin eher die Dynamik nicht zu Ende gedachter Entscheidungen. Robin Alexander habe mit den „Getriebenen“ anhand der Merkelschen Grenzöffnung ein „wunderbares Fallbeispiel“ geliefert: „Feigheit, Opportunismus und Unverstand kombinieren sich zu einem unglaublichen Ergebnis.“

Sind Euro-„Rettungs“-Politik und unkontrollierte Masseneinwanderung Fehlerketten, die sich aus Selbst- und Fremdtäuschung fortschreiben, oder doch das Ergebnis einer „anderen Agenda“, die die Kanzlerin verfolge, wie Jost Bauch zu bedenken gibt? 

Sarrazin zeigt sich skeptisch gegenüber „Vermutungswissen“. Merkel habe sich bei denen, die sie für wichtig hält, beliebt machen wollen, und die Folgen einfach nicht durchdacht. Ein großer Teil unserer Medien und Politiker habe einen „unreflektierten Universalismus“ verinnerlicht. „Wer sich für die ganze Welt zuständig fühlt, ist auf einer geölten schiefen Ebene in den argumentativen Abgrund“, stellt Sarrazin nüchtern fest. Demokratie sei im Nationalstaat zu Hause, ein Überstaat könne nicht demokratisch sein, konstatiert auch Karl-Albrecht Schachtschneider. 

Aufhalten könne die radikale Veränderung des deutschen Nationalstaats durch außereuropäische Masseneinwanderung wohl nur „ein kollektives Wachwerden, von dem ich aber nicht weiß, wie man es bewirken könnte“, meint Sarrazin. Eine Wirkung immerhin bescheinigt er sich selbst: Auch Autoren und Medien machten Politik – es sei eine offene Frage, ob die AfD ohne seine Bücher gegründet worden wäre.