© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/17 / 31. März 2017

Pankraz,
Gott als Masseur und die Hand aus Musik

Farbenreich und durchaus bedenkenswert für höhere Theologie-Semester kamen die Darlegungen einher, die der Schriftsteller Martin Walser vorige Woche anläßlich der Feiern seines neunzigsten Geburtstages überall in den Medien verlauten ließ. Dem Mann geht es jetzt, wie könnte es anders sein, vorrangig um die sogenannten „letzten Dinge“, um Gott und Unsterblichkeit, um Schöpfung und Apokalypse, um das große Welträtsel und das Rätsel der eigenen Existenz. Und das Publikum bekam Sätze zu hören wie etwa diesen: „Gott ist ein Masseur, und seine Hände sind die Musik.“

Das war keineswegs nur metaphorisch-dichterisch gemeint, sondern im gleichen Maße auch erkenntnistheoretisch-philosophisch, also als „Weltmetapher“, die alles enthält, was uns Menschen über das Wesen der Schöpfung zu sagen möglich ist.  Christliche Theologen hörten sogleich einen widerborstigen, gleichsam „gnostischen“ Ton heraus. Gott hat die Welt gar nicht geschaffen, soll hier offenbar gesagt werden, Gott will sie nur „verbessern“, ins rechte Maß bringen, für Vernunft und Gefühl erträglich machen.Wie gesagt, Gott ist ein Masseur, er massiert unsere Schmerzen weg, soweit es möglich ist.

Irenäus von Lyon und andere Kirchenväter sind seinerzeit energisch gegen diese gnostische Massagetheorie zu Felde gezogen, indem sie immer wieder auf die Grundlehre des Christentums verwiesen: Gott mußte zwar Übel und Verhängnis in die Welt lassen, damit sie sich überhaupt von ihm, dem Schöpfer, unterschied; aber er opferte dafür Jesus Christus, seinen „eingeborenen Sohn“, der alle Übel bis zum bittersten Tod stellvertretend auf sich nahm und bei dem man Gnade und Erlösung finden konnte. Gott sei mithin kein bloßer Masseur, kein globaler Medizinmann, sondern viel, viel mehr: Schöpfer und Erlöser in einem.


Martin Walser seinerseits ist – nach allem, was er während der Geburtstagsfeiern ansprach und einbekannte – von der Einheit von Schöpfer und Erlöser, beziehungsweise Medizinmann, nicht überzeugt, wobei er diese (Nicht-)Überzeugung originellerweise und unüberhörbar mit seinem Berufsstand als Schriftsteller in Verbindung brachte. Schriftsteller, so seine These, sind primär nicht zuständig für die Benennung oder gar die  Herstellung von Wahrheit und Gerechtigkeit (was ist denn Wahrheit, was Gerechtigkeit?), sondern einzig für die Herstellung und den Genuß des Schönen.

Sprachkunstwerke – so Wal-sers These – beziehen ihre Rechtfertigung und ihren Ruhm allein aus der gelungenen Versprachlichung ihres Gegenstandes. nicht aus irgendwelchen Meinungen und Belehrungen, die eventuell angepappt werden. Noch die blutigste und schrecklichste Shakespeare-Tragödie ist schön (und deshalb ein großes Kunstwerk), weil sie die Grausamkeit und den Schrecken in die optimale Sprachform gebannt hat. 

Die Parallele ist unübersehbar: Auch gute Schriftsteller  sind Masseure. Sind sie deshalb auch Götter oder zumindest göttlich inspiriert? Offen wurde dergleichen während der Geburtstagsfeiern und der vielen Interviews nirgends behauptet, aber es schwang doch permanent ein prononciert feierlicher, quasi gottesdienstähnlicher Tonrhythmus mit. Wir sind zwar keine Schöpfer, wurde – scheinbar bescheiden – suggeriert, doch wir sind auch keine bloßen Abbildner oder rohrstockbewehrte Oberlehrer. Wir  sind Masseure.

Als neunzigjähriger Herr mit wohl mancherlei altersbedingten Rückenschmerzen und sonstigen Beschwerden weiß Martin Walser ja bestens Bescheid über die schier ungeheure Heilkraft guter Massage und die außerordentliche, wahrhaft psycho-somatische Genugtuung und Erleichterung,, die sie den Patienten beschert. Über die Jahrtausende hinweg galt sie, völlig zu Recht, bei faktisch allen Völkern dieser Erde als Zentralinstrument einer unblutigen und dennoch zuverlässig wirksamen Medizin.


Bereits vor 2.000 Jahren erschienen im chinesischen Konfuzianismus hochgelehrte Schriften, die die Massage als Ausgangs- und Endpunkt jeglicher medizinischer  Behandlung empfahlen und zahllose noch heute befolgte Anweisungen über die richtigen Handgriffe und den Einsatz von Ölen und Kräutern während des Massageprozesses gaben. Und auch bei den medizinischen Klassikern der europäischen Antike, von Hippokrates bis Galenos, spielte die Massage die führende Rolle. Erst im christlichen Mittelalter geriet sie faktisch in Vergessenheit und mußte von Paracelsus um 1500 regelrecht neu entdeckt werden.

Heute ist ihr medizinischer, ja existentieller Rang voll wiederhergestellt; die Ernennung der Schriftsteller zu Masseuren durch Martin Walser legt davon beredtes Zeugnis ab. Freilich birgt diese Ernennung auch eine tolle Pointe, die wie im Nebenbei auch die scheinbare „Vergöttlichung“ der Schriftsteller relativiert. Gott soll  zwar ebenfalls ein Masseur sein, doch er sei deshalb noch lange kein Schriftsteller. Denn seine Hände seien nicht die Sprache, sondern – die Musik! Wenn etwas in der Menschenwelt gottähnlich sei, dann nicht die Sprache, sagt der Sprachkünstler Walser, sondern die Musik.

Es gibt von ihm den – nicht überzeugenden, ganz theologisch daherkommenden – Altersroman „Muttersohn“, in dem eine Art aktueller Jesusverschnitt die Hauptrolle spielt und die Handlung voll in Peinlichkeit versickert. Aber ganz zum Schluß versammeln sich die Angehörigen des verstorbenen „Muttersohns“ in einer oberschwäbischen Kleinstadtkirche und singen einige Begräbnislieder. Und siehe! Ihr Chorgesang schlägt plötzlich ein eigenartiges Band der Liebe  um die Sänger und breitet sich zudem auf die übrigen Kirchenbesucher aus. Bald singen sie mit, bald singt ganz Oberschwaben mit. Es ist wie ein Wunder.

Und nicht wohlgesetzte  Sprache hat das Wunder bewirkt, vielmehr eine Musik, von der man nicht einmal weiß, wer sie und ob sie überhaupt jemand je in Noten gesetzt hat. Die Hand aus Musik und ihre Schöpfermacht bleiben ein unenthüllbares Geheimnis.