© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/17 / 31. März 2017

Wenn der Knöterich in den Klassenraum wächst
Desolate Zustände: Der akute Sanierungsbedarf Berliner Schulen beträgt 1,6 Milliarden Euro / Politik will Unisex-Toiletten
Ronald Berthold

Pflanzen in einem Klassenzimmer sind an sich etwas Schönes. Wenn aber das Unkraut von außen in die Schule hineinwächst, dann erscheint das bedenklich. Dann sagt das viel darüber aus, wieviel Wert die Politik auf Bildung und Kinder legt. Und – dann bist du in Berlin: In einer Schule in Steglitz-Zehlendorf lugte plötzlich der Knöterich in den Unterrichtsraum.

Die Hauptstadt-Schulen verfallen, einige gleichen fast Ruinen. Allein der akute Sanierungsbedarf liegt laut offiziellen Angaben aller zwölf Berliner Bezirke insgesamt bei 1,6 Milliarden Euro. Nach einer Untersuchung aus dem vergangenen Sommer müßten sogar 4,9 Milliarden Euro ausgegeben werden, um sämtliche Schäden zu beseitigen. Inzwischen hat Schulsenatorin Sandra Scheeres (SPD) die Summe nach unten korrigiert. Aber auch 4,2 Milliarden Euro sind immer noch ein gewaltiger Betrag, den die Berliner Politik weder aufbringen kann noch will. Seit Jahren tun weder die Bezirke noch der Senat etwas Nachhaltiges gegen den Verfall der Bildungseinrichtungen. Und so scheint es ein Wunder, daß noch kein Kind erschlagen wurde.

Denn ebenfalls im südwestlichen, dem reichsten Berliner Bezirk, am Lilienthal-Gymnasium im Ortsteil Lichterfelde, wären beinahe Gebäudeteile zu Boden gegangen – wie einst der berühmte namensgebende Flugpionier auf seinem letzten Trip. Am Haupteingang des roten Backsteinbaus konnte ein Unglück offenbar im letzten Moment noch verhindert werden. „Wir haben Sorge, daß sich die Situation nicht so schnell verbessert und daß eines Tages ein Kind zu Schaden kommt“, sagte Ulrike Kipf, die Vorsitzende des Bezirkselternausschusses Steglitz-Zehlendorf, kürzlich dem Tagesspiegel.

Viele Eltern fragen sich, wozu sie Steuern zahlen

Während der Staat über Jahre die Hände in den Schoß gelegt hat, gehört es heute an vielen Berliner Schulen zum Alltag, daß Eltern in ihrer Freizeit wenigstens optische Schäden beseitigen, damit die Kinder sich beim Lernen ein wenig wohler fühlen. An Wochenenden entfernen sie blätternde Farben, kaufen aus eigener Tasche frische Anstriche, besorgen sich Pinsel und verschönern gemeinsam die Klassenräume. Doch viele fragen sich, wozu sie überhaupt Steuern bezahlen.

Der sogenannte „Gebäudescan“, den die Berliner Bezirke nun flächendeckend in Auftrag gegeben haben, verdeutlicht auf erschreckende Weise, wie es wirklich um den Zustand der Schulen steht. Doch die Erkenntnis dessen, worüber sich Eltern und Schüler seit vielen Jahren beschweren, führt noch nicht automatisch zur Beseitigung der Schäden.

Steglitz-Zehlendorfs Schulstadtrat Frank Mückisch (CDU) tritt schon mal auf die Erwartungsbremse. In seinem Bezirk, wo Berlins „schlimmste Schrott-Schulen“ (Bild-Zeitung) stehen und der akute Sanierungsbedarf mit 342 Millionen Euro landesweit am höchsten liegt, stehen in diesem Jahr lediglich 20 Millionen zur Verfügung – nicht einmal sechs Prozent. Ein Tropfen auf den heißen Stein.

Rechnet man diesen Betrag hoch, würde es 17 Jahre dauern, bis alle Schulen saniert sind. Allerdings fehlt bei dieser Betrachtung, daß der Verfall in dieser Zeit weiter fortschreitet, die Kosten dadurch explodieren und auch die Handwerkerpreise inflationsbedingt steigen. An zahlreichen Schulschließungen würde dann kein Weg mehr vorbeiführen. Wegen Einsturzgefahr mußten Aufsichtsbehörden ohnehin schon mehrere Gebäude schließen.

Zum Irrsinn der Berliner Bürokratie gehört es, daß die Verantwortlichen die Budgets nicht einmal annähernd ausschöpfen. 2015 und 2016 riefen sie landesweit nur 15 Prozent der dafür bereitgestellten Mittel ab. Den Rest haben Politiker in andere Projekte gesteckt. Und so macht Schulsenatorin Sandra Scheeres den Bezirken den Vorwurf, Geld für die Schulsanierungen „teilweise zweckentfremdet“ zu haben. Sie will das Thema zur Chefsache machen, den Bezirken entziehen und zwei Landesgesellschaften für Schulsanierung und -neubau gründen.

Im von SPD, Grünen und CDU geführten Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg wird diese Zweckentfremdung besonders deutlich. Dort seien – so der Vorwurf aus dem Senat – Millionen, die für die Schulsanierung gedacht gewesen waren, zur Verschönerung von Rathäusern verwendet worden. Motto: Erst einmal wir und dann – wenn überhaupt – die Schüler.

Neben dem seit Jahren von den Grünen dominierten Friedrichshain-Kreuzberg gehört auch das CDU-geführte Steglitz-Zehlendorf zu jenen Bezirken, die nicht einmal ihren im Vergleich zum Sanierungsbedarf minimalen Haushalt dafür nutzen. Begründung des zuständigen christdemokratischen Stadtrats Mückisch: Personalknappheit in den Berliner Ämtern bei der Auftragsvergabe und überbeschäftigte Baufirmen. Diese seien durch den Bauboom dermaßen ausgelastet, daß sie keine Zeit für Schulsanierungen hätten. Doch wer einen Vorschlag erwartet, wie diesen Mißständen begegnet werden kann, hört nichts.

Alles ist kaputt: Fassaden, Dächer, Fenster, Fußböden

An den Berliner Schulen ist so ziemlich alles kaputt, was der Zahn der Zeit zerstört: Fassaden, Dächer, Fenster und Fußböden. Sogar die Elektrik und Heizungsanlagen geben den Geist auf. Auch der Brandschutz, der angeblich die Eröffnung des Großflughafens BER verhindert hat, funktioniere nach Politiker-angaben vielfach nicht. Spötter lästern über die Berliner Schulpolitik bereits: „Ruinen schaffen ohne Waffen.“

Vielfach hören Eltern von ihren Kindern den Satz: „Das ist so eklig, in der Schule gehe ich nicht aufs Klo.“ In einer Zeit, in der der Berliner Senat die Unisex-Toilette zu seinem Aushängeschild der Hauptstadtpolitik machen will, müssen sich Jungs an Büschen und Bäumen erleichtern, damit sie sich auf den Unterricht konzentrieren können. Doch die Freiluft-Unisex-Toilette auf Berliner Schulhöfen ist noch nicht so weit, daß Mädchen hier gleichberechtigt wären. Sie betrifft die Klo-Misere ganz besonders.

Auch bei diesem Dilemma sind immer häufiger Arbeitseinsätze Berliner Eltern gefordert. Nach Feierabend putzen sie die Schulklos. Viele Väter und Mütter würden gern einen finanziellen Vergleich zwischen den Kosten für das Lieblingskind ihrer Regierung und dem Bedarf für die Instandsetzung der versifften Schul-WCs aufmachen. Doch über den Preis für die Einführung der Unisex-Toiletten hüllen sich die Senatoren weiter in Schweigen. Im Moment sind immer noch vom Steuerzahler bezahlte Gutachter beauftragt, die ideale Lösung zu finden, Objekte zu begehen und Machbarkeitsstudien zu entwickeln. Wichtig sei, daß sich „Transmenschen“ nicht weiter diskriminiert fühlten, wenn sie ihr Geschäft zu verrichten haben, läßt der Senat wissen. Daß Kinder nicht mehr auf die Toilette gehen wollen, scheint in diesem Zusammenhang weniger prioritär.

Einen Vergleich, den allerdings inzwischen immer mehr Eltern anstellen, ohne hinter vorgehaltener Hand zu reden, ist der zu den Kosten für die Flüchtlingspolitik. Denn die liegen jetzt offen. Allein im vergangenen Jahr brachte der Senat nur für Transferleistungen an die Asylbewerber 941 Millionen Euro auf. Mit allen anderen Posten zusammen zahlte das Land Berlin 2016 knapp 1,3 Milliarden Euro für die frisch Eingewanderten – fast annähernd die Summe, die für die wenigstens akuten Sanierungsarbeiten an den Berliner Schulen benötigt wird. Doch dafür ist angeblich kaum Geld da, was manche Eltern und auch Lehrer zur Verzweiflung bringt. Sie wollen nicht mehr diffamiert werden, weil sie die Zahlungen für Flüchtlinge aufrechnen und mit den Kosten für den Schulsanierungsbedarf vergleichen.

Land und Bezirke machen sich gegenseitig Vorwürfe

Was viele Hauptstädter seit Jahren beklagen, ist nun offenbar auch in der Politik angekommen. Sehenden Auges hätten viele Bezirke die Schulen verrotten lassen, beklagt die Schulsenatorin. Auf viele wirkt das dennoch wie ein Ablenkungsmanöver. Denn die SPD-Politikerin, eine gelernte Erzieherin mit einem Abschluß als Diplom-Pädagogin, führt die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie bereits seit Dezember 2011. Jetzt, da die alarmierenden Zahlen über den Zustand der Schulen öffentlich geworden sind, bildet die Berliner Politik ein Bild der gegenseitigen Vorwürfe. Land gegen Bezirke und umgekehrt. In der Koalitionsvereinbarung von Rot-Rot-Grün für die laufende Wahlperiode steht dazu lediglich die politische Phrase, die Regierungskoalition werde die Schulen „zu guten Lehr- und Lernorten entwickeln und die notwendigen Sanierungen und Neubauten realisieren“. Nur, tatsächlich voran kommt dadurch nichts.

Bevor die Verantwortlichen das Problem grundlegend angehen, dürften die eröffneten Unisex-Toiletten mit großem Brimborium schon wieder saniert werden. Und es wird wohl noch mehr Knöterich durch Schulwände in die Klassenzimmer gewachsen sein.