© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/17 / 31. März 2017

Desinformation und Propaganda – zur Bestimmung aktueller Begriffe
Böse Zwillingsschwestern
Jürgen Liminski

Die vierte Gewalt ist im Umbruch. Die Auflagenzahlen der Zeitungen sinken, die Zuschauerzahlen der Fernsehsender auch, die aktuelle Information verlagert sich weitgehend ins Internet. Verlage überleben, weil sie Gedrucktes und den Netz­auftritt verbinden. Das gilt vor allem für Tages- und Wochenzeitungen, diesseits und jenseits des Atlantiks. Auch das Leseverhalten ändert sich, soziale Netzwerke bekommen mehr Gewicht bei der Meinungsbildung. Insgesamt ist eine Beschleunigung der Informationsflüsse zu beobachten, gefragt sind die großen Vereinfacher, die mit wenigen Schlagworten durch die Stromschnellen führen.

Für die Demokratie, die von der Differenzierung lebt, ist das keine gute Entwicklung. Auch Donald Trump hat sich auf die Umbruchsituation eingestellt und bedient sich der neuen Mittel. Mit Twitter hat er schon während des Wahlkampfs die traditionellen Medien umgangen und sich direkt an das Publikum gewandt. Mit Twitter schießt er aus dem Trump-Tower gegen jene Medien, die nach wie vor eine Hetzjagd auf ihn veranstalten.

Auch in Deutschland wird, vor allem in den öffentlich-rechtlichen Medien, immer noch zum Halali auf Trump geblasen. Erst recht, seit er die Subventionen für Abtreibungsorganisationen gestrichen hat. Mit ebenso theatralischem wie überheblichem Gestus verkünden Kleber, Slomka, Zamperoni und etliche Korrespondenten im Einklang mit deutschen Politikern ihren Spott und ihre Häme über den Amateur im Weißen Haus. Auffallend ist auch, wie die Springer-Presse, allen voran die Welt, mit Manipulationen Front macht gegen Trump. Beispiel: Seine Bemerkung „Folter funktioniert“ wurde in der Hauptschlagzeile auf der ersten Seite zu „Donald Trump möchte foltern“. Hier wird aus einer Ansicht eine Absicht. Gleichzeitig mehren sich die Artikel und Berichte in deutschen Medien über „Fake News“, Manipulationen, Propaganda, Desinformation. Es geht um die Deutungshoheit.

„Desinformation ist nicht nur Lüge, Propaganda, intellektuelles Belemmern, Vergessen wichtiger Details. Sie fügt noch eine raffinierte Eigenschaft hinzu: Sie gaukelt dem Gegner vor, daß die ihm schädliche Information aus seinem eigenen Hause stammt.“

Dabei geraten die Begriffe durcheinander. Kein Wunder, es fehlt das Koor­dinatensystem, um solche Begriffe einzuordnen. Dieses System kann sich nur an dem Oberbegriff Wahrheit und seinem Gegenteil, der Lüge, orientieren. Aber wer ein gespaltenes Verhältnis zur Wahrheit als „Enthüllung der Wirklichkeit“ (Josef Pieper) hat, wer die Wirklichkeit, auch geistige Wirklichkeiten, wie die Natur des Menschen verneint und sich dagegen Ideologien anheimgibt, für den verschwimmen die Begriffe notwendigerweise. Man kann das Wort von Joseph Ratzinger (noch als Kardinal) nicht oft genug wiederholen: „Der Kern der heutigen Krise ist der Verzicht auf die Wahrheit.“

Zwischen den Polen von Wahrheit und Lüge findet Information statt. Wahrheit ist, nach der bekannten Definition von Thomas von Aquin, die „Übereinstimmung von erkennendem Verstand und Sache“. Man kann diese sogenannte Adäquationstheorie auch auf Aristoteles zurückführen. Sie wird von Nihilisten, schon zu Zeiten Platons und Aristoteles, verneint. Im Kern verneint man entweder die Fähigkeit zu erkennen oder die Sache selbst. Das ist nicht nur ein Problem des Journalismus, der Wirklichkeit  sprachlich vermitteln will. Erkannt oder erforscht, eruiert, recherchiert wird nicht mehr ein Sachverhalt, so wie er ist, sondern so wie er sein soll, wie er in ein Denkschema paßt.

Es wird nicht mehr vermittelt, sondern verkündet. Es wird als „wahr“ genommen, was man wünscht. Andere Tatsachen um den Sachverhalt werden als irrelevant eingestuft oder als unbrauchbar. Jean-François Revel, dem wir ein aufschlußreiches Buch über Lüge und Desinformation verdanken, spricht vom „unbrauchbaren Wissen“ und bezeichnet das Phänomen der gewollten, nach ideologischen Kriterien vorgehenden Selektion als „Auto-Desinformation“.

Man befindet sich damit recht nahe dem Pol der Lüge, die nach klassischer Definition „eine Aussage mit dem Willen, Falsches auszusagen“ ist. Entscheidend ist der Wille, die bewußte Falschaussage. Sie ist der Kern der Desinformation.

Hermann Lübbe sprach in seinem berühmten Aufsatz über den politischen Moralismus schon vor 30 Jahren vom „Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft“, von einer „Selbstermächtigung“ und zwar „zum Verstoß gegen die Regeln des gemeinen Rechts und des moralischen Common sense unter Berufung auf das höhere Recht der eigenen, nach ideologischen Maßstäben moralisch besseren Sache“. Das selbstermächtigte Verschweigen oder Übergehen politisch relevanter Sachverhalte geht natürlich über die herkömmliche Disputatio in pluralistischen Demokratien hinweg. Es macht die ideologische Auseinandersetzung zum Kampf, zum politischen Krieg.

Der politische Krieg ist im vollen Gang. Seine bevorzugte Waffe, um den Willen des Gegners zu beugen, ohne daß er das merkt, ist die Desinformation. Nach der bekannten Definition von Clausewitz ist der Krieg „ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen (...) ein wahres politisches Instrument, eine Fortsetzung des politischen Verkehrs, ein Durchführen desselben mit anderen Mitteln. Denn die politische Absicht ist der Zweck, der Krieg ist das Mittel, und niemals kann das Mittel ohne Zweck gedacht werden“. Lenin hat diese Definition des preußischen Generals umgekehrt in den Satz, die Politik sei die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, das Fundament für den politischen Krieg. Ihm ging es um die Ausgrenzung des militärischen Aspekts.

Das haben seine Nachfolger auch so gesehen und kultiviert, insbesondere im sowjetischen Geheimdienst. Es war der damalige KGB-Chef Jurij Andropow, der 15 Jahre den Geheimdienst führte (1967–1982), anschließend auch für anderthalb Jahre Generalsekretär der KPdSU war, der die Abteilung D (für Dezinformacija) oder V aufbaute. Es ist die größte und vermutlich auch effektivste. Lenin selbst hat den Begriff „Dezinformacija“ vor genau hundert Jahren erfunden und definierte ihn als „Verbreitung von falschen und provozierenden Informationen“, wie in einem alten KGB-Handbuch nachzulesen ist.

In der „Großen Sowjetenzyklopädie“ wurde man später genauer. Dort wird sie beschrieben als „Verbreitung entstellter oder bewußt unwahrer Informationen. In den bürgerlichen Staaten wird Desinformation breit eingesetzt als eines der Mittel der politischen Propaganda mit dem Ziel, die öffentliche Meinung irrezuführen“. Genau das war auch das Ziel der Abteilung D.

Andropows Erben haben darin eine gewisse Meisterschaft erworben. Der französische Publizist Revel präzisiert: „Desinformation ist nicht nur Lüge, Propaganda, intellektuelles Belemmern, Fabrikation falscher Nachrichten, Zensur oder Vergessen wichtiger Details und Neuigkeiten. Sie umfaßt gewiß all diese Techniken. Aber sie fügt noch eine raffinierte Eigenschaft hinzu: Sie gaukelt dem Gegner vor, sie macht ihm weis, daß die ihm schädliche Information aus seinem eigenen Hause stammt.“

Es geht um eine andere Darstellung der Wirklichkeit, um Deutungshoheit, und je mehr die die Rezipienten der veröffentlichten Meinung im Westen davon überzeugt sind, die Wahrheit auf ihrer Seite zu haben, um so leichter wird es, sie zu manipulieren.

Wie groß die Fähigkeiten der, jedenfalls damals, größten Staatssicherheitsbehörde der Welt auf diesem Gebiet sind, mag folgendes Beispiel der gewollten Legendenbildung um Andropow illustrieren. Dieser war nie im Westen gewesen, aber als KGB-Chef studierte er westliches Denken und Life-Style. Andropow habe, wie der ihn bewundernde („intellektuell“) Spiegel verbreitete, selbst keinen Wodka getrunken, sondern Whisky und Cognac; sein Auftreten sei elegant gewesen. Diese Details freilich sind tatsächlich das Produkt einer KGB-Desinformationskampagne. Andropow wurde vom KGB vorsätzlich als Anhänger westlicher Lebensweise inszeniert, sogar das Detail mit dem Whisky entstammt der Lügenküche des KGB. „Sobald er sich im Kreml eingewöhnt hatte, umgab Andropow sich mit KGB-Offizieren, die sofort eine Propagandakampagne begannen, um ihn dem Westen als einen ‘moderaten’ Kommunisten vorzustellen, als einen verständnisvollen, warmen, nach Westen orientierten Mann, der angeblich einen gelegentlichen Scotch genösse, gern englische Novellen läse und es liebte, amerikanischen Jazz und Beethoven zu hören“, schrieb Ion Mihai Pacepa 2004. Pacepa mußte es wissen: Als Generalleutnant der rumänischen Securitate war er der ranghöchste östliche Geheimdienst­offizier, der sich je nach dem Westen abgesetzt hat. Tatsächlich habe Andropow wegen eines fortschreitenden Nierenversagens nicht getrunken, „und der Rest der Darstellung war gleichermaßen falsch“ (National Review, 20. September 2004, „No Peter the Great“).

Andropow wollte die kulturelle Hegemonie im Sinne Gramscis. Der politische Krieg war für ihn und ist erst recht für seine heutigen Erben der Weg, auf dem man hoffen kann, die Hegemonie ohne militärische Auseinandersetzung zu erreichen, und zwar, wie der Schweizer Politologe Peter Sager ausführte, „mit den Mitteln der Subversion, Spionage, Agitation, Propaganda, Desinformation, Bestechung, Drohung, Erpressung und Terror“. Desinformation ist Teil des politischen Krieges oder ideologischen Kampfes mit dem Ziel, das Bewußtsein des ideologischen Gegners umzuformen. Es ist ein Krieg mit unerkannten Lügen.

Die Abgrenzung zur Propaganda, der Zwillingsschwester der Desinformation, ergibt sich aus dem Ziel. Desinformation strebt nach einer umfassenden, totalen Hegemonie, Propaganda dagegen „versucht, die Einstellung großer Menschenmengen zu beeinflussen und zwar in umstrittenen, kontroversen Fragen, in denen sich eine bestimmte Gruppe engagiert hat“. So heißt es schon bei Harold Dwight Lasswell (1902–1978) vor achtzig Jahren, eine Definition, die manche Enzyklopädie, etwa die „Britannica“, und manches Wörterbuch zur Publizistik später aufgegriffen hat. Die Manipulation der Propaganda ist also partiell, die der Desinformation total. Propaganda täuscht manchmal, Desinformation immer.

Beiden Zwillingsschwestern gemeinsam ist zwar der Versuch der Beeinflussung. Während die Desinformation aber verborgen bleibt – wird sie decouvriert, verliert sie ihre Wirkung –, liegt es geradezu im Wesen der Propaganda, werbend möglichst viel Aufhebens um ihre Sache zu machen. Desinformation kann sich an einzelne richten, Propaganda richtet sich immer an die Masse. Desinformation verhindert die Erkenntnis von Wirklichkeit, Propaganda verzerrt sie nur. Desinformation sucht auf dem Umweg des Irrtums eine bestimmte Entscheidung zu erwirken, Propaganda legt fertige Meinungsmuster vor, sie drängt ein fertiges Urteil auf. Desinformation läßt ihrem Objekt möglichst keine Freiheit, obwohl dieses glaubt, völlig frei eine eigene Entscheidung zu fällen. Propaganda bedrängt, läßt aber ein gewisses Maß an geistiger Autonomie zu. Desinformation kennt keine Konkurrenz, Propaganda lebt von ihr und bleibt der Gegenpropaganda ausgesetzt. In totalitären Regimen sind Desinformation und Propaganda deshalb auch deckungsgleich.

Die fünfte Kolonne hat sich verselbständigt. Sie marschiert in den Redaktionen Europas und Amerikas. Die Auto-Desinformation funktioniert. Die Saat des Nihilismus und Relativismus, der Verneinung von Wirklichkeiten und Wahrheiten, geht auf. 

Mehr noch: Wenn die Konkurrenz fehlt, entwickelt sich die Propaganda zur Agitation und diese zur bewußtseinsändernden Desinformation. Die verzerrte Welt wird zur einzigen „Wahrheit“. Der sowjetische Journalist Boris Tumanow formulierte das in Zeiten von „Glasnost“ so: Desinformation, falsche Information wurde zum Wahrheitsersatz, zum „offiziellen Surrogat der Realität. Die Realität selbst aber wurde verdrängt in die Illegalität des gesellschaftlichen Lebens, in Witze, Klatsch und Gerüchte. Unter diesen Bedingungen war echtes Wissen einfach nicht notwendig. Unsere Gesellschaft betrachtete sich nicht im Spiegel, sondern sah sich auf Plakaten.“

Wer die Berichterstattung über Trump verfolgt, gewinnt hier und da den Eindruck eines Déjà-vu. Auch heute wird mehr plakatiert als informiert. Und es wird offen Haß geschürt. Aber es gibt keine Sowjetmacht, die dahintersteht. Allerdings gibt es ihre Erben, die das Werk fortsetzen. Auch heute investiert der russische Geheimdienst weit mehr als die Hälfte seines Budgets in die Abteilung V, Desinformation. Zu ihr gehört auch die neue Form der Kriegführung, der Cyberwar.

Die fünfte Kolonne hat sich verselbständigt. Sie marschiert in den Redaktionen Europas und Amerikas. Die Auto-Desinformation funktioniert. Die Saat des Nihilismus und Relativismus, der Verneinung von Wirklichkeiten und Wahrheiten, geht auf. Das bleibt nicht folgenlos. Solange es Konkurrenz gibt auf dem Acker der vierten Gewalt, wachsen Spreu und Weizen gemeinsam hoch. Aber wenn die Medien, die sich noch altmodisch um Wahrheit und Fairneß bemühen, die Personen und Institutionen achten, in eine nicht mehr beachtete Minderheit geraten und vom Unkraut erdrückt werden, dann rutscht die Gewaltenteilung und mit ihr die Demokratie in eine Schieflage. So weit sind wir noch nicht, aber die Fundamente werden locker.






Jürgen Liminski, Jahrgang 1950, ist Politologe, Publizist und Kommunikationswissenschaftler (www.liminski.de). Er war unter anderem Ressortleiter für Außenpolitik bei der Welt und Moderator beim Deutschlandfunk. Liminski ist Geschäftsführer des Instituts für Demographie, Allgemeinwohl und Familie (www.i-daf.org). Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die deutsch-französische Freundschaft („Eine Achse, die trägt“, JF 5/17).

Foto: Feuer an die Köpfe legen: Ein politisch-ideologischer Krieg mit dem Ziel, das Bewußtsein umzuformen