© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/17 / 07. April 2017

Der Druck bleibt aus
Die Flüchtlingskrise 2015 und die Politik: Das Buch „Die Getriebenen“ rüttelt die Bürger auf, aber nicht die politische und mediale Klasse
Michael Paulwitz

Dieses Buch müßte „eigentlich einen Untersuchungsausschuß nach sich ziehen“, schrieb Cicero-Chefredakteur Christoph Schwennicke zur Präsentation von „Die Getriebenen“. Welt-Korrespondent Robin Alexander zeichnet in seinem „Report aus dem Innern der Macht“ (JF 12/17) die politischen Spitzen der Bundesrepublik Deutschland als Ansammlung entscheidungsschwacher, parteipolitisch taktierender, ängstlich auf Stimmungen und die eigene Präsentation im günstigen medialen Licht schielender Opportunisten, von denen im entscheidenden Moment niemand bereit war, die Verantwortung für eine harte, aber rechtlich und staatspolitisch gebotene Entscheidung zu übernehmen.

Robin Alexander, der sich im engsten Umfeld der Kanzlerin bewegt und eben erst ihren Besuch bei US-Präsident Trump in schmeichelhaftem Licht zeichnete, stellt Merkel durchaus nicht als Alleinverantwortliche dar. Der ängstlich sich rückversichernde Innenminister Thomas de Maizière, der die Bundespolizeiführung im Regen stehen läßt und sich schließlich durch Kompetenzabgabe an den „Flüchtlingskoordinator“ im Kanzleramt selbst entmachtet, erscheint als eigentlicher Anti-Held.

Den überfälligen Untersuchungsausschuß, in dem der von Alexander als geradliniger Mahner porträtierte Bundespolizeichef Dieter Romann eine zentrale Rolle spielen müßte, hat bislang niemand gefordert. Auch nicht die im Bundestag nicht vertretene FDP, deren Vorsitzender Christian Lindner immerhin die offizielle Präsentation der „Getriebenen“ übernommen hatte. Einzig die AfD, die dem Kontrollverlust in der Asylkrise einen Umfrage-Höhenflug verdankte, hat sich – namentlich ihr bayerischer Landeschef Petr Bystron – die Forderung zu eigen gemacht. 

Die „Opposition“ im Bundestag ist erst recht ein Totalausfall. Was zweifellos damit zu tun hat, daß Grünen und Linken die Asyl-Massenimmigration eher noch nicht weit genug ging. Der Erfolg des Buches mündet bislang nicht in konkreten politischen Druck. Die Hauptakteure der Asylkrise haben wohl auch deshalb nicht einmal auf ihre Fehler reagiert. 

Auch der mediale Druck bleibt aus. Das Versagen der „vierten Gewalt“ verwundert ebenfalls kaum, müßte sie dabei doch ihre eigene Rolle als Treiber der Getriebenen kritisch reflektieren. Zwar hat die Welt das Werk ihres Korrespondenten vorab breit lanciert. Kaum eine große Zeitung aber hat Alexanders Recherchen weiterverfolgt. Für die meisten war das Thema mit einer Rezension erledigt.

Diese Gelassenheit kontrastiert frappierend mit dem anhaltenden Verkaufserfolg der „Getriebenen“. Binnen weniger Tage gingen Zehntausende Exemplare über den Tisch, das Buch stürmt die Verkaufslisten, der Verlag druckt gerade die fünfte Auflage. Für Medien und Polit-Establishment mag die Asylkrise bereits Geschichte sein. Die Bürger, die die Folgen erst jetzt in vollem Umfang zu spüren bekommen, sind damit noch lange nicht durch.

Der Präsident des Bundespolizeipräsidiums Dieter Romann schlägt im Interview mit Bild Online Alarm. Deutschland sei jetzt im dritten Jahr in Folge Hauptziel der illegalen Migration in die EU. Allein die Bundespolizei (BP) stelle derzeit jeden Tag zwischen 250  und 350 unerlaubte Einreisen fest. Der oberste Bundespolizist nennt vor allem das „sehr langwierige Asyl- und ausländerbehördliche Verfahren“ sowie die im EU-Vergleich „hohen Geldleistungen in der Zwischenzeit“ als „starke Anreize“ für die Migration. Selbst abgelehnte Asylbewerber, so Romann weiter, müßten kaum mit ihrer Abschiebung rechnen. Um hier wieder stärker zu steuern, habe die Politik mit der „Beschleunigung der Verfahren wichtige Schritte“ unternommen. Wichtig sei es, jetzt „auch schnell zurückzuführen“.


Innenminister Thomas de Maizière (CDU) betont: „Das Dublin-System muß in Kraft bleiben.“ 



Ungarns Regierung gibt bekannt, daß sie die Zuwanderung von Flüchtlingen, die das Land zumeist nur als Transitstation in Richtung Westeuropa nutzen, einschränken wolle. Die 175 Kilometer lange Grenze zu Serbien soll demnach mit einem vier Meter hohen Grenzzaun abgeriegelt werden.


Bei der Vorstellung des Jahresberichts der Bundespolizei 2014 unterstreicht Dieter Romann in Gegenwart von Innenminister Thomas de Maizière den auf Deutschland „lastenden Migrationsdruck“. Dieser sei durch mehr als 57.000 festgestellte illegale Einreisen belegt. Dieser Trend setze sich ungebrochen fort. In Anbetracht dieser Situation forderte Romann: „Man muß auch ’Nein’ sagen können – und dieses ’Nein’ auch durchsetzen können.“


Im ARD-Sommerinterview erklärt Kanzlerin Angela Merkel: „Das Dublin-Abkommen entspricht nicht mehr den Gegebenheiten, wie wir sie mal hatten.“ Europa müsse zu einer fairen Lastenverteilung bei der Flüchtlingsaufnahme kommen. In Deutschland, so Merkel, müßten jedoch diejenigen, die ein Bleiberecht haben – etwa Bürgerkriegsflüchtlinge, die vor Krieg und Gewalt geflüchtet seien –, schnell eine Perspektive bekommen.


Der Sprecher der ungarischen Regierung Zoltán Kovács teilt im Interview mit der JUNGEN FREIHEIT mit, daß von Januar bis Anfang August 115.000 Migranten „illegal nach Ungarn eingedrungen“ seien.


Allein im Juli beantragten fast 80.000 Personen Asyl in Deutschland. Viele Kommunen sind mittlerweile völlig überlastet.


Einem Bericht des Flüchtlingshilfswerkes UNHCR zufolge haben die Menschen nach fünf Jahren Krieg in Syrien die Hoffnung verloren. Vor allem die schlechten Lebensbedingungen führten mehr und mehr zu Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Hervorzuheben sei hier die chronische Unterfinanzierung von Hilfsprogrammen für Flüchtlinge und die Aufnahmeländer Irak, Jordanien, Libanon und Türkei. Viele Flüchtlinge hätten dem UNHCR berichtet, daß diese Kürzungen der „letzte Anstoß waren, das Land zu verlassen“ und „nach Europa zu gehen“. Zudem weist das Hilfswerk darauf hin, daß die Mehrheit der vertriebenen Iraker von einem Gefühl der Unsicherheit im Irak berichten würde. 


Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) erklärt in einem SPD-Videoblog: „Frieden, Menschlichkeit, Solidarität, Gerechtigkeit: Das zählt zu den europäischen Werten. Jetzt müssen wir sie unter Beweis stellen. Ich bin sicher, wir schaffen das.“


Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge setzt das „Dublin-Verfahren“ aus: „Dublin-Verfahren syrischer Staatsangehöriger werden zum gegenwärtigen Zeitpunkt vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge weitestgehend faktisch nicht weiterverfolgt“, vermeldet es auf Twitter. Zehntausende in Budapest Kampierende Migranten sehen das als Aufruf, gen Norden ziehen. Sie skandieren „Merkel! Merkel!“ oder „Germany! Germany!“


„Momentan rollen massive Verstärkungen gen Süden“, schreibt der Pressesprecher der Bundespolizei Ivo Priebe in der Verbandszeitschrift Kompakt.


Kanzlerin Merkel unterstreicht: „Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das.“




Ungarische Polizeikräfte ziehen sich vom Bahnhof Keleti zurück. Tumultartige Szenen. Hunderte illegale Migranten, die vor dem Bahnhof Kampierten, erstürmen die wenigen Züge in Richtung Österreich. Gegen 18 Uhr erreichen die ersten Züge den Hauptbahnhof München. Hier erwarten die Migranten zahlreiche Medienvertreter. Aktivisten begrüßen die Ankommenden und versorgen sie mit Getränken und Lebensmitteln. Bis Mitternacht zählte die Bundespolizeiinspektion München 900 neue Migranten. In der Schalterhalle des Starnberger Bahnhofs brandeten Sprechchöre  auf. Syrer stimmen  „Germany, Germany!“-Rufe an.


Ungarn Regierungschef Viktor Orbán bezeichnet den Zustrom von Flüchtlingen als „deutsches Problem“.  Tausende Migranten machen sich auf eigene Faust Richtung Norden auf.


Robin Alexander skizziert in seinem Buch „Die Getriebenen“ die  Stunden der Grenzöffnung:



8.30 Uhr

In Angela Merkels Büro im siebten Stock des Kanzleramts in Berlin trifft sich die sogenannte „Morgenlage“, genauer: die „Leitungsebene“. Es herrscht „Business as usual“. Doch gerade einen Tag vorher war das Bild des tot an einem türkischen Strand liegenden dreijährigen Aylan Kurdi Medienthema Nummer eins. 


11 Uhr 

Regierungssprecher Steffen Seibert unterstreicht, daß Ungarn „Teil der westlichen Wertegemeinschaft“ sei, die „rechtlich verbindliche Pflicht“ habe, die Flüchtlinge „ordnungsgemäß zu registrieren, zu versorgen und die Asylverfahren unter Beachtung der europäischen Standards in Ungarn selbst durchzuführen“.


18.30 Uhr

Einem Bericht von Zeit Online zufolge wirkt Merkel „entspannt, fast heiter, als sie das Festhaus Flora in Köln betritt. Mit Unions-Granden wird sie 70 Jahre CDU in Nordrhein-Westfalen feiern. Sie schüttelt Hände, lächelt für Erinnerungsfotos. Sie wiederholt ihr ‘Wir schaffen das’. Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg seien so viele Menschen nach Deutschland gekommen, sagt die Kanzlerin: ‘In dieser Situation haben wir die Verpflichtung zu helfen.’ Sie sagt aber auch: ‘Wer aus rein wirtschaftlichen Gründen herkommt, dem muß man sagen, daß er nicht bleiben kann’.“


20 Uhr 

Merkel telefoniert mit dem österreichischen Kanzler Werner Faymann (SPÖ). Beide sind sich nach Alexander darin einig, Gewalt verhindern zu wollen. Das Auswärtige Amt habe danach noch in der Nacht eine Art „Ad-hoc-Gutachten erstellt. Ergebnis: Die Abholung und Aufnahme der Flüchtlinge, die sich ja eigentlich in sicheren Drittländern bewegen, sei ausnahmsweise möglich, es handle sich um eine Notlage. SPD-Chef Sigmar Gabriel (SPD) habe zugestimmt. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) sei nicht involviert und Seehofer nicht erreicht worden. Zudem habe Innenminister de Maizière geschwächt mit einer Bronchitis im Bett gelegen.


21.15 Uhr 

Ungarn informiert darüber, die 1.000 Flüchtlinge aus Sicherheitsgründen mit etwa 100 Bussen an die österreichisch-ungarische Grenze zu schicken.


Gegen 24 Uhr

Merkel telefoniert erneut mit Faymann und stimmt laut Alexander seiner Idee der Grenzöffnung zu. Faymann habe daraufhin Orbán informieren wollen. Doch war bereits eine „Armada an Bussen“ mit  12.000 Insassen unterwegs.

Die Grenze ist geöffnet. „Im Stundentakt steigen neue Migranten am Gleis 26 aus den Zügen. Etwa 500 Münchner säumten die Absperrgitter und klatschten, wenn sich die Zugtüren öffneten. ’Welcome’-Transparente ragten aus der Menge. Ein Mann stimmte die ’Ode an die Freude’ an“, berichtet der Bundespolizist Simon Hegewald im BP-Magazin Kompakt.


Vierzehn Bundesländer schlagen Alarm: Kapazität ausgeschöpft. Laut Robin Alexander erklärt Innenminister de Maizière: Merkel muß entscheiden. Um 17.30 Uhr sei es daraufhin zu einer Telefonkonferenz mit Merkel, den Parteivorsitzenden Horst Seehofer (CSU), Sigmar Gabriel (SPD), Außenminister Steinmeier, de Maizière und Kanzleramtschef Peter Altmaier gekommen. Hier habe de Maizière dann die Wiedereinführung von Grenzkontrollen verlangt. Niemand habe widersprochen.


Auslösung des Polizeialarms. Angaben der Bundespolizei zufolge reisten an diesem Tag die meisten Migranten (cirka 14.000) nach Deutschland ein. Laut Robin Alexander erteilt de Maizière folgenden Einsatzbefehl an die Bundespolizei: Grenzschließung für Flüchtlinge vorbereiten. Romann habe dazu dann den „Nazi-Aufmarsch ‘Tag der Patrioten‘” in Hamburg als Vorwand genommen, um auf einem „provisorischen Hubschrauberlandeplatz Hunderte Polizisten an die Grenze in den Alpen zu fliegen. Die Bundespolizei notiert (Kompakt-Magazin): „Alle verfügbaren Kräfte der Bundesbereitschaftspolizei im Einsatz. Rund 2.000 Beamte verstärkten unverzüglich die Bundespolizeidirektion München bei der Binnengrenzfahndung, in Bearbeitungsstraßen in Deggendorf und Rosenheim, im Koordinierungsstab in München sowie in den Dienststellen Freilassing, Freyung, Passau und München.“ Um 17.30 Uhr wird Einsatzbereitschaft gemeldet.


Laut Alexander wurde der Plan jedoch „durchgestochen“. Zudem habe sich die Angst vor „einem „Chaos auf dem Balkan“ bei den Verantwortlichen ausgebreitet. De Maizière habe dennoch eine Pressekonferenz für 17.30 Uhr angesetzt. Dort erklärt er: „Deutschland führt in diesen Minuten vorübergehend wieder Grenzkontrollen ein. Ziel der Maßnahme ist, den Zustrom zu begrenzen, um wieder zu einem geordneten Verfahren zurückzukehren“. Doch laut Alexander sei es bereits nachmittags zu Unstimmigkeiten bei der rechtlichen Wertung der Fragen gekommen: Darf Deutschland zurückweisen? Kann es Zurückweisungen durchsetzen? Gilt Dublin noch? De Maizière habe dreimal mit der Kanzlerin telefoniert. Zudem habe er Romann gefragt: Was geschieht, wenn 500 Flüchtlinge mit Kindern auf dem Arm auf die Bundespolizisten zulaufen? Auch die SPD stellt sich  quer („Wir haben schon die Agenda 2010 gemacht, wir können für die CDU nicht auch noch die Grenzen schließen“). Daraufhin habe der Innenminister den Einsatzbefehl geändert: Statt Zurückweisungen „auch im Falle eines Asylgesuches“ werden die Polizeidirektionen nun angewiesen, daß Drittstaatenangehörigen ohne Dokumente mit Vorbringen eines Asylbegehrens die Einreise zu gestatten sei. Alexanders Fazit: Keiner wollte die Verantwortung für die Grenzschließung übernehmen.


Aufhebung des Polizeialarms.






Bundesinnenminister Thomas de Maizière verkündet, das Dublin-Verfahren in bezug auf Asylbewerber, mit Ausnahme der Asylbewerber, die über Griechenland in den Schengenraum einreisen, wiedereinzuführen.


Die Europäische Union und die Türkei einigen sich auf einen gemeinsamen Aktionsplan. Er soll die hohe Zuwanderung von illegalen Migranten aus verschiedenen Herkunftsstaaten durch die Türkei nach Europa verringern. Damit diese in der Türkei besser versorgt werden können und sich nicht auf den Weg nach Nordeuropa machen, sagt die Europäische Union die Zahlung von bis zu drei Milliarden Euro zu.