© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/17 / 07. April 2017

Deutschland als „Wertegemeinschaft“?
Nation ist viel konkreter
Jost Bauch

Die zunehmende multikulturelle Diversität unserer Gesellschaft erzwingt die Beantwortung der Frage, was angesichts dieser Diversität die Gesellschaft noch zusammenhält. Eine Nation braucht, um Nation zu sein, irgendein Band, das diese hält, etwas Verbindendes, auf das sich alle Gesellschaftsmitglieder beziehen können. Gibt es so etwas nicht mehr, hat es keinen Sinn mehr, von Deutschland oder Frankreich oder Polen zu sprechen.

Die herrschende Klasse in Deutschland betreibt im großen Stil eine Politik der De-Nationalisierung dieses Landes, indem alle Festungen des traditionellen Nationalstaates geschliffen werden sollen. Deutschland wird heruntergestuft zu einer Euro-Region eines europäischen Vielvölkerstaates ohne jedes politische Mandat und ohne jegliche eigenstaatliche Souveränität. Gleichwohl wird selbst in der politisch korrekten Sprechweise an der Einheit Deutschlands als einem von anderen Ländern abgrenzbaren Land festgehalten. 2015 betonte der Alt-Bundespräsident Joachim Gauck: „Gerade weil Deutschland immer mehr ein Land der Verschiedenen wird, braucht es die Rückbindung aller an unumstößliche Werte. Einen Kodex, der allgemein gültig akzeptiert ist (...). Unsere Werte stehen nicht zur Disposition! Sie sind es, die uns verbinden und verbinden sollen, hier in unserem Land.“

„Nationbuilding“ erfolgt hier ausschließlich über Werte. Deutschland wird als „Wertegemeinschaft“ zusammengehalten, durch nichts sonst. Die Frage stellt sich, ob eine Gesellschaft oder Nation (verkürzt setzen wir hier beide Begriffe gleich) tatsächlich ausschließlich oder zumindest hauptsächlich durch Werte-Gemeinschaften zusammengehalten werden kann. Spätestens nach der Rede von Jürgen Habermas über den „Verfassungspatriotismus“ ist dieses „Narrativ“ von den Werten als einzig legitimem Mittel der Schaffung gesellschaftlicher und staatlicher Kohärenz zumindest für das links-liberale Establishment zu einer bindenden ideologischen Formel geworden. Bei näherer Analyse zeigt sich die Absurdität dieses Denkansatzes, der nur die Funktion hat, traditionelle Formen der Nationen-Genese und Legitimation als veraltet zu diskreditieren und damit außer Kraft zu setzen.

In der Soziologie sind Werte zunächst einmal bewußte oder unbewußte Vorstellungen von „Wünschbarkeiten“, die sich als Präferenz bei der Wahl zwischen Handlungsalternativen niederschlagen. In jeder Kollektiveinheit sind Wertvorstellungen wirksam, welche das Verhalten der Gruppenmitglieder bestimmen, ihr Tun und Lassen motivieren und ein Ferment der Integration bilden. Entscheidend ist, daß Werte in der jeweiligen Referenzgruppe nach innen harmoniestiftend wirken (können), nach außen, also in Bezug zu anderen Gruppierungen, durchaus konfliktträchtig sein können. Im Gegenteil, gerade weil Wertentscheidungen letztlich rational nicht begründbar sind, sie trotzdem oftmals als verbindlich postuliert und dann moralisch aufgeladen werden, tragen sie ein großes Konfliktpotential in sich.

Die Grundwerte sind in vielen Demokratien in positives Recht umgesetzt, sie gelten in Großbritannien genauso wie in Japan. Warum diese Werte ausgerechnet die Raison d’être Deutschlands darstellen können, bleibt damit im dunkeln.

Werte sind so eben nicht ausschließlich Kohärenzstifter; die Wertepräferenzen meines Nachbarn unterscheiden sich in der Regel erheblich von den meinigen. Zumal, wie der Soziologe Ernst E. Hirsch in dem renommierten „Wörterbuch der Soziologie“ (herausgegeben von Wilhelm Bernsdorf) ausführte: „Ihre Gültigkeit (also die von Werten) als absolut, das heißt von Zeit und Ort unabhängig zu postulieren, bedeutet Ideologisierung, die mit wissenschaftlicher Erkenntnis nichts zu tun hat, sondern als Mittel politischer Herrschaftsausübung zu dienen bestimmt ist“.

Die politisch korrekte Rede von der Wertegemeinschaft als Identitäts- und Einheitsstifter kann sich somit gar nicht auf die „Alltagswerte“ der Menschen beziehen. Sie bezieht sich vielmehr auf die sogenannten Grundwerte, auf die Werte schlechthin, die Grundüberzeugungen und „Credos“, wie sie zum Beispiel im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland festgeschrieben sind. Diese Grundwerte konvergieren mit den allgemeinen Menschenrechten, sie spezifizieren, daß alle Menschen gleich und frei sind und daß kein Mensch wegen seiner Hautfarbe, Religionsüberzeugung, geschlechtlicher und politischer Orientierung diskriminiert werden darf. Entscheidend ist: Dies sind weltweit und universell geltende Werte. Sie gelten auch im letzten Winkel des Erdballs, auch und gerade dann, wenn die jeweils Herrschenden gegen diese Werte mit allen Mitteln verstoßen. Es sind überpositive, naturrechtlich abgesicherte Werte, die in bezug auf jeden Menschen gelten.

Diese Werte nun sollen die Grundlage für den Zusammenhalt der Bundesrepublik Deutschland bilden und den Kern der Identität unseres Staatswesens ausmachen. Dies bereitet aber angesichts der universellen Geltung dieser Werte doch einige Schwierigkeiten. Denn diese Werte sind in vielen Demokratien in positives Recht umgesetzt, sie gelten in Großbritannien genauso wie in Japan, Norwegen oder Griechenland. Warum diese Werte ausgerechnet die Raison d’être Deutschlands darstellen können, bleibt damit im dunkeln.

Universell geltende Werte können die Existenz individueller Staaten nicht begründen – es fehlt ihnen gerade wegen der Universalität die Fähigkeit, die Unterschiedlichkeit und Einzigartigkeit einzelner Staaten überhaupt zu erfassen. Es sei denn, die Menschenrechte würden nur in einem einzigen Land gelten, wie das in Frankreich zur Zeit der Französischen Revolution (theoretisch) mit der Formel von der „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ der Fall war. Mit der Ausbreitung dieser Ideale im Zuge der Aufklärung in Europa und Amerika konnte die Bezugnahme auf die Menschenrechte in der französischen Verfassung die französische Nation jedenfalls alleine nicht mehr begründen.

An der Durchsetzung der Menschenrechte als Werte-Richtschnur der Politik ist somit nichts deutsch, weil diese Werte in vielen Ländern gelten. Universell geltende Werte als Grundlage der deutschen Nation zu apostrophieren, führt geradezu zur Selbstauflösung dieses Staates. Denn dieses Denkmodell impliziert, daß jeder Deutscher werden kann, der sich zu den Grundwerten bekennt. Entweder ist jeder, der sich zu diesen Grundwerten bekennt, automatisch Deutscher (ein neuer deutscher Werte-Imperialismus, bekanntlich sollte ja am „deutschen Wesen die Welt genesen“), was doch angesichts dieses Machtgehabes den Widerspruch unserer Nachbarn provozieren würde; oder aber jeder Mensch auf der Welt, der sich zu diesen Grundwerten bekennt, kann Deutscher werden, wenn er das will.

Wenn das Wesen des Deutschen das Bekenntnis zu diesen Grundwerten ausmacht, dann kann de facto kein Mensch abgewiesen werden, der das Bekenntnis zu diesen Grundwerten ablegt. Damit ist in Deutschland der Weg frei für einen Vielvölkerstaat, und es spricht alles dafür, daß genau dies mit der Rede von der Wertegemeinschaft von der herrschenden politischen Klasse intendiert ist.

Die Absurdität der über eine Wertegemeinschaft legitimierten Nation zeigt sich auch darin, daß Werte in keiner Weise objektivierbar sind. Wenn sich jemand beim Eintritt in das Territorium der Bundesrepublik zu den Grundwerten bekennt, um genau diesen Eintritt zu ermöglichen, so kann er sich nach erfolgreicher Immigration sofort von diesen Grundwerten lossagen und sich irgendwelchen fundamentalistischen Gruppen anschließen.

Auf Werten alleine eine Nation aufbauen zu wollen, kann nur zu einem Wolkenkuckucksheim führen. Wenn in so einem Bekenntnisstaat die Politische Korrektheit erodierte, gäbe es nichts mehr, das ein solches Gemeinwesen zusammenhielte. 

Das Bekenntnis alleine zu den Grundwerten hat somit keinerlei Schutzschildfunktion, um beispielsweise integrationswillige Migranten von integrationsunwilligen zu unterscheiden. Werte sind eben regulative Ideen und damit wenig faßbar. Auf diesen (alleine) eine Nation aufbauen zu wollen, kann nur zu einem Wolkenkuckucksheim führen. Es führt zu einer Nation der Bekennenden, zu einem Bekenntnisstaat, in dem es nur eine Gemeinsamkeit der Bürger gibt: das gemeinsame Bekenntnis zum Rechtsstaat und zu den Menschenrechten. Dies wiederum erklärt, warum die Political Correctness so wichtig wird: Wenn diese wegfällt oder erodiert, gibt es nichts mehr, das einen solchen Staat zusammenhält.

Mit den Ausführungen soll nicht gesagt sein, daß Werte nicht auch für das „Nationbuilding“ wichtig sind. Natürlich ist es gut und richtig, daß in einem Rechtsstaat die Menschenrechte gelten. Aber diese Wertegemeinschaften reichen nicht aus, um eine Nation und einen eigenen Staat zu konstituieren und am Leben zu halten. Eine Nation besteht aus unterschiedlichen Komponenten, die überhaupt erklären können, warum sich in einem bestimmten Territorium bei einer gegebenen Bevölkerung ein eigenes Staatswesen gebildet hat. Jede dieser Komponenten alleine für sich kann die Staats- und Nationwerdung nicht erklären, aber das spezifische Zusammenspiel dieser Elemente macht Staatenbildung plausibel und wahrscheinlich.

So gehören zu diesen Komponenten beispielsweise ethnische, soziokulturelle, sprachliche und historische Elemente, die alle zusammen in durchaus unterschiedlicher Weise, aber doch unverzichtbarerweise eine Nation konstituieren. Entscheidend ist das Prinzip der Eingesessenheit: Familien, die über Generationen in einem bestimmten Land leben, geben einer Nation ihr Gesicht und ihre charakteristische Gestalt.

Detlef Kleinert betont in seinem Buch „Nationen – die Bausteine Europas“, daß die Nation und das Vaterland die Heimat von Menschen gleicher Herkunft, gleicher Sprache, Tradition und erlebter Geschichte darstellt. Und der Schriftsteller Ulrich Schacht führt in seiner Aufsatzsammlung „Über Schnee und Geschichte“ aus: „Menschen ohne Heimat und Nation sind Irrläufer der Geschichte. Heimat ist ein lokaler und regionaler Prägegrund, unhintergehbar, radikal im Sinne des Wortes. Nation bündelt Regionen, produziert und symbolisiert in einem das allen Gemeinsame. Funktionierende Staatsnationen sind der beste Garant für qualifizierte Ordnungen, in denen der Mensch sich zurechtfindet, wo er ankommen und ausruhen, von wo aus er aufbrechen und ausgehen kann.“

Karlheinz Weißmann hat in seinem Buch „Nation?“ darauf aufmerksam gemacht, daß sich Staatsnationen nur auf Dauer haben etablieren können, wenn sie auf eine Reihe von „organischen“ Voraussetzungen aufbauen können. Dazu gehört eine relative Einheit von Sprache, Kultur und ethnischer Zugehörigkeit, diese sind „zwar keine hinreichende, aber doch notwendige Bedingung für die Entstehung von Staatsnationen“.

Will man diese „organischen Voraussetzungen“ streichen und eliminieren und den gesellschaftlichen und staatlichen Zusammenhalt alleine durch luftige Wertegemeinschaften ersetzen, so wird man letztlich den Nationalstaat auflösen. Doch genau dies ist so gewollt. Es gilt, dies mit allen republikanischen Mitteln zu verhindern. 






Prof. Dr. Jost Bauch, Jahrgang 1949, lehrte Medizinsoziologie an der Universität Konstanz. Er führt in einer Doppelspitze das Studienzentrum Weikersheim. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Entstofflichung der Realität („Das postfaktische Zeitalter“, JF 2/17).

Foto: Modellfiguren aus Draht und Gips, Bildhauerwerkstatt des Deutschen Museums in München, 2014: Universell geltende Werte können die Existenz individueller Staaten nicht begründen