© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/17 / 14. April 2017

Jehuda Schaul will über angebliche israelische Kriegsverbrechen aufklären
Ende des Schweigens
Marc Zoellner

Als Jehuda Schaul das erstemal den Mörser bediente, fühlte er sich wie unter Strom. „Die Feuerkraft der Waffe liegt bei 88 Granaten pro Minute“, erzählt der 34jährige Jerusalemer. „Das Betätigen des Auslösers war der aufregendste Moment des Tages, und es war wie ein Videospiel!“

Dies war Schauls erster Kampfeinsatz, und es sollte auch sein letzter sein: In Hebron stehen rund 500 jüdische Siedler etwa 200.000 arabischen Einwohnern gegenüber; erstere Tag und Nacht beschützt von der israelischen Armee und ideologisch zutiefst radikalisiert – ebenso wie viele der Soldaten. So wie der 18jährige Sanitätssoldat Elor Azaria, der 2016 den kaum drei Jahre älteren palästinensischen Terroristen Abdul Fatah al-Sharif tötete: Der Angreifer Sharif lag bereits getroffen am Boden, als Azaria dem Wehrlosen in den Kopf schoß. Azaria wurde im Februar zu 18 Monaten Haft verurteilt. Für die Siedler gilt er seitdem als Held, für die israelische Menschenrechtsbewegung Schovrim Schtika – international als „Breaking the Silence“ bekannt – dagegen als Mörder.

Schovrim Schtika, zu deutsch „das Schweigen brechen“, wurde 2004 von ehemaligen israelischen Besatzungssoldaten wie Jehuda Schaul gegründet. Seitdem sammelt sie Zeugenaussagen über ungesühnte Verbrechen, Mißhandlungen und Greueltaten der Armee an palästinensischen Zivilisten. Gut tausend solcher Ereignisse – vom mutwilligen Beschuß ziviler Wohngegenden über willkürlich verhängte Ausgangssperren und brutale Prügelorgien an Gefangenen und Verdächtigen, bis hin zur billigenden Inkaufnahme der Tötung palästinensischer Zivilisten – hat Schovrim Schtika mittlerweile zusammengetragen und der israelischen und internationalen Öffentlichkeit durch Ausstellungen und Informationsveranstaltungen präsentiert. 

Dabei stammt Mitgründer Jehuda Schaul keineswegs etwa aus dem liberalen, sondern aus dem orthodoxen, dem, wie er sagt, „der politischen Rechten“ angehörenden Milieu. Heute kritisiert er, daß „das israelische Parlament mein Land“ durch seine Siedlungs- und Enteignungspolitik „einen Schritt näher bringt, ein Apartheidstaat zu werden“.

Tatsächlich scheint Schauls Gruppe der israelischen Regierung unter Benjamin Netanjahu ein Dorn im Auge zu sein: Beim Staatsbesuch Anfang Februar bat der Ministerpräsident seine britische Amtskollegin Theresa May, die finanzielle Unterstützung Großbritanniens für Schovrim Schtika einzustellen. Daß diese sich zu zwei Dritteln durch Gelder von Staaten der Europäischen Union und europäischen Organisationen finanziert, ruft in Israel viel Kritik hervor. Ebenso, daß sie Zeugenaussagen nur anonymisiert veröffentlicht. Denn dadurch seien diese nicht zu überprüfen, und das wirke sich negativ auf die Glaubwürdigkeit der gesamten Dokumentation aus, mahnen Schauls Kritiker.