© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/17 / 14. April 2017

„Euretwegen habe ich es doch getan“
Carola Dietze untersucht, inwieweit Terrorismus einen politischen Erfolg nach sich ziehen konnte und damit zur Nachahmung anstiftete
Konrad Faber

Am Abend des 14. Januar 1858 erschütterten drei kurz aufeinander folgende Explosionen Paris. Unmittelbar vor einem Opernbesuch hatten drei Attentäter Bomben auf die Kutsche und Eskorte Kaiser Napoleons III. geworfen, während ein vierter Attentäter unmittelbar vor dem Anschlag dingfest gemacht wurde. Unter der Eskorte-Soldaten und Zuschauern am Straßenrand gab es 156 Verletzte. Acht Menschen starben. Kaiser Napoleon III. hatte nur eine Schramme an der Nase davongetragen, während seine Gemahlin eine Augenverletzung durch umherfliegende Glassplitter erlitt. Zwei Attentäter, darunter der Anführer Felipe Orsini, richte man hin, die beiden anderen erhielten langjährige Haftstrafen. 

Infolge des Attentats kam es zu einer politischen Krise zwischen England und Frankreich, denn die Attentäter italienischer Herkunft waren erst kurz vor dem Attentat aus England angereist. Dort lebten sie ungestört wegen der sehr liberalen englischen Flüchtlingsgesetzgebung und fertigten unbemerkt ihre Bomben an. Napoleon III. zog insofern politische Schlußfolgerungen aus dem mißglückten Attentat, als er künftig eine enge Zusammenarbeit mit dem Königreich Sardinien pflegte und alle Prozesse unterstützte, welche binnen weniger Jahre zur italienischen Einheit führten. 

Am 16. Oktober 1895 bewaffnete ein sklavereifeindlicher Hardliner und fundamentalistischer Christ namens John Brown seine Söhne, einige Freunde und Schwarze, insgesamt 18 Mann. Unter Ausnutzung der Sonntagsruhe überfielen sie das Armeemagazin Harpers Ferry, wo sie Geiseln nahmen und die örtlichen Sklaven zu befreien suchten. Die Aktion sollte als Fanal für einen irregulären Krieg zur Sklavenbefreiung in den USA dienen. Obwohl die Aktion binnen kurzem kläglich scheiterte und John Brown nach einem entsprechenden Gerichtsurteil öffentlich gehängt wurde, beschleunigte er dadurch letztlich den Ausbruch des Bürgerkriegs in den USA mit der nachfolgenden Niederlage der sklavenhaltenden Südstaaten und der finalen Abschaffung der Sklaverei. 

Carola Dietze weist nach, daß beide Aktionen nicht nur in der europäischen, sondern auch „transatlantischen“ Presse ungeheures Aufsehen erregten und John Brown von der vorhergehenden Aktion Orsinis beeinflußt war. Die Presse spielte hier erstmals ihre Macht als „vierte Gewalt“ aus und beflügelte somit den Gedanken, politische Ziele mittels blutiger, direkter Gewalt zu erreichen. 

Drei weitere „Nachahmertaten“ sollen beweisen, daß man in Deutschland, den USA und Rußland aus dem Medienhype um Orsini und Brown dementsprechende Schlußfolgerungen zog. Zwar scheiterte das Attentat des Studenten Otto Becker auf den preußischen König Wilhelm I. 1861 und jenes des Studenten Dmitrij Karakozow auf Zar Alexander II. 1866, doch 1865 tötete der Schauspieler John Wilkes Booth den US-amerikanischen Präsidenten Lincoln. In der Zeit zwischen 1858 und 1866 bildete sich also in den USA und in Europa gemäß Carola Dietze der Gedanke an die Erreichung politischer Ziele mit terroristischen Mitteln heraus, und die Presse mit ihrer umfassenden Berichterstattung stand Pate dabei.

 Ablehnung ihrer Taten durch die Bevölkerung

Doch weist diese These, so wohlbegründet sie auf den ersten Blick erscheinen mag, erhebliche Schwachpunkte auf. Handelte es sich in den genannten Fällen wirklich um „terroristische Akte“ oder nicht vielmehr um den seit der Antike bekannten „Tyrannenmord“, bei dem man durch die Beseitigung eines ranghohen Mitglieds der herrschenden Kaste politische Veränderungen erhoffte oder durch das Attentat wenigstens „berühmt“ zu werden suchte? Der krankhafte Züge aufweisende Attentäter Becker wollte jedenfalls kurz vor dem Attentat auf den König ernsthaft in die preußische Armee eintreten, und der Russe Karakozow entschloß sich zum Zarenattentat erst dann, als er sich unheilbar krank glaubte. John Brown hingegen hatte als selbsternannter Anführer einer „Northern Army“ am 24. und 25. Mai 1855 fünf Sklavereibefürworter ermordet, was unter der örtlichen Bevölkerung viel mehr Unruhe und Schrecken erregte als sein späterer Marsch auf Harpers Ferry. 

Zudem fehlte gerade den drei Nachahmungstätern die eigentliche terroristische Organisation hinter sich, denn sie handelten als Einzeltäter. Eines vielleicht mag bei diesen Attentätern wie bei den heutigen Terroristen gleich sein, die fassungslose Ablehnung ihrer Taten durch die breite Bevölkerung. Nicht umsonst schrie der Attentäter Karakozow frustriert den herbeiströmenden Petersburgern zu: „Ihr Esel, euretwegen habe ich es doch getan.“ Ob man indessen den modernen islamistischen Terror mit Verweis auf politische Gewalttaten zu Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa und Amerika erklären kann, das muß ganz eindeutig angezweifelt werden.

Carola Dietze: Die Erfindung des Terrorismus in Europa, Rußland und den USA 1858–1866. Hamburger Edition, Hamburg 2016, gebunden, 750 Seiten, Abbildungen 42 Euro