Kaum gibt der Frühling einen kleinen Vorgeschmack auf den kommenden Sommer, fallen allerorts die Hüllen. Frauen und Männer zwängen sich in ihre Shorts und Shirts, zeigen viel Haut und vor allem Tattoos.

Die junge, etwas pummelige Frau, die in der Straßenbahn vor mir sitzt, trägt ein solches auf ihrer porzellanfarbenen Haut. Eine undefinierbare Ranke auf dem Schulterblatt. Zerschnitten wird es von einem intensiv leuchtenden lilafarbenen Träger ihres BHs, der sich selbst unter einem rosafarbenen Achselshirt verbirgt. Überhaupt gleicht die Frau einem Garten mit Frühlingsblumen. Mit aufgeklebten zartrosa Fingernägeln mit Blümchen tippt sie eifrig auf ihr Smartphone ein.

Die Plastiktunnel in ihren Ohrläppchen sind knallrot und haben Herzchenform. 

Die Plastiktunnel in ihren Ohrläppchen sind knallrot und haben Herzchenform. Ihre Kurzhaarfrisur mit den unzähligen blonden Strähnen im braunen Haar erinnert an ein Getreidestoppelfeld. Der leere Kindersportwagen ist schwarz und giftgrün. Geradezu farblos wirkt der neben ihr sitzende Freund mit seinen kurzgeschorenen blonden Haaren und schlichtem schwarzen T-Shirt. Bei ihm setzt nur ein kleiner silberner Ohrring einen Akzent.

Mein Sohn hat die Frau offenbar auch gemustert. „Papa, schau mal, die sieht ja aus wie ein Osterei“, raunt er mir ins Ohr. Offenbar nicht leise genug, denn sein kleiner Bruder schnappt den Satz auf. Er brabbelt begeistert – für mich viel zu laut – und die Frau anstrahlend: „Buntes Osterei, buntes Osterei.“ 

Als der durchaus muskulöse Begleiter sich fragend umschaut, hat meine Frau die Situation schon gerettet. Sie hat den Blick des Kleinen nach draußen gelenkt, wo in einem Vorgarten mit farbigen Ostereiern geschmückte Sträucher stehen: „Schau mal.“ Der Mann lächelt, stößt seine farbenfrohe Freundin an und deutet auch nach draußen.

Ich bin erleichtert. Meine Frau schaut mich verschmitzt an und formt mit dem Mund lautlos die Worte: „Buntes Osterei“.