© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/17 / 21. April 2017

Ein Land voller Baustellen
Frankreich vor der Richtungswahl: Wirtschaftlich im Hintertreffen, demographisch überfremdet, in der Identität erschüttert
Friedrich-Thorsten Müller

Wenn am 7. Mai in Frankreich nach dem zweiten Wahlgang die Wahllokale schließen, wird das Land, dank des Kandidaturverzichts des glücklosen Sozialisten François Hollande, ganz sicher einen neuen Präsidenten haben. Mit einem ruhigeren Fahrwasser für die Politik unseres linksrheinischen Nachbarn ist deshalb gleichwohl nicht zu rechnen. Die mögliche Zeitenwende, die darin besteht, daß zum erstenmal ein Anti-Establishment-Kandidat in den Elysée-Palast einzieht, bedeutet vor allem eines: der Handlungsspielraum des neuen Präsidenten oder der neuen Präsidentin wird verhältnismäßig klein sein. Weder der unabhängige Sozialdemokrat Emmanuel Macron noch die FN-Vorsitzende Marine Le Pen hätten eine Perspektive, bei den kurz darauf stattfindenden Wahlen zur Nationalversammlung im Juni eine eigene parlamentarische Mehrheit zu bekommen. Und selbst der Sieg des durch einen Scheinbeschäftigungsskandal von Familienangehörigen angeschlagenen François Fillon von den „Republikanern“ hätte einen vom Start weg geschwächten Präsidenten zur Folge. Denn der Vertrauensverlust in die als korrupt empfundenen etablierten Politiker ist groß, und die Geduld der Bürger mit den Politikern wird immer kleiner.

Keine guten Aussichten für ein Land, das aufgrund islamistischer Anschläge mit bisher 238 Toten seit fast eineinhalb Jahren im Ausnahmezustand lebt und überdies mit steigender Kriminalität zu kämpfen hat. Auch für die dringend notwendigen Wirtschaftsreformen, um sich auf Dauer in der Eurozone zu behaupten, sind das nicht die besten Voraussetzungen. Vor allem aber kämpft Frankreich mit einer tiefen Identitätskrise, ausgelöst durch die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer massiver werdende afrikanisch-islamische Einwanderung. Längst beherrscht viele Herkunftsfranzosen – so der französische Philosoph Alain Finkielkraut – nicht mehr „die Angst vor den anderen“, vielmehr hätten sie „Angst davor, selber zu den anderen zu werden“ – und damit Fremde im eigenen Land.

In Paris haben drei Viertel der Babys afrikanisches Blut

Die Sorge ist nur zu gut begründet. Zwar sind Bevölkerungsstatistiken nach Herkunft in Frankreich bisher noch ein Tabu. Aber über den Umweg der Auswertung von Screening-Untersuchungen bei Neugeborenen kam heraus, daß 2015 im Großraum Paris mit seinen zwölf Millionen Einwohnern 73,4 Prozent der Neugeborenen mindestens einen nord- oder schwarzafrikanischen Elternteil hatten. Landesweit waren es im selben Jahr immerhin 38,9 Prozent der Kinder, die bei den für Neugeborene afrikanischer Herkunft obligatorischen Tests der halbstaatlichen Französischen Vereinigung für Behinderungserkennung und -vorsorge beim Kind (Association Française pour le Dépistage et la Prévention des Handicaps de l’Enfant, AFDPHE) auf eine Sichelzellenanämie untersucht wurden. Zum Vergleich: 2010 wurden erst 31,5 Prozent der Babys auf diese nur unter Afrikanischstämmigen verbreitete Erbkrankheit untersucht.

Hinzu kommt, daß diese neuen Franzosen – sie haben sämtlich per Geburt Anspruch auf die französische Staatsangehörigkeit – meist auch moslemischer Religionszugehörigkeit sind. Durch die ungleichmäßige Verteilung dieser Einwanderung, die vor allem die Region Paris, den Mittelmeerraum und das Elsaß betrifft, verändern viele Orte dramatisch ihr Gesicht. In Michel Houellebecqs in Frankreich viel rezensierter Roman-Dystopie „Unterwerfung“, die das Szenario einer islamischen Übernahme des Landes zeichnet, ist vielleicht nur die Jahreszahl 2022 utopisch.

Auch sonst driftet Frankreich auseinander. Die Gesellschaft ist tief gespalten: zwischen florierenden Städten und von Abwanderung, Überalterung und bäuerlichem Niedergang bedrohtem Land. Das Höfesterben tritt besonders stark in der Bretagne hervor, die gleichzeitig die bedeutendste Agrarregion Frankreichs ist.

Außerdem stehen Globalisierungsgewinner und Europa-Enthusiasten einer in ihrer Existenz bedrohten Industriearbeiterschaft gegenüber, die nur machtlos der Deindustrialisierung des Landes zusehen kann und deshalb ihre Hoffnungen auf einen wiedererstarkenden Nationalstaat setzt. Zwar gibt es vor allem in der Luft- und Raumfahrtindustrie in Frankreich weiterhin sehr erfolgreiche Firmen. Nach Angaben des französischen Statistikamtes Insee ist der Anteil der Industrie an der Wertschöpfung seit 1990 aber von 17,7 auf 11,3 Prozent gesunken. Zum Vergleich: In Deutschland liegt er aktuell bei 22 Prozent. Zeitgleich stieg das Außenhandelsdefizit auf knapp 54 Milliarden Euro pro Jahr.

Eine besorgniserregende Entwicklung, denn Wohlstand und Arbeitsplätze entstehen in nicht-rohstoffexportierenden Ländern immer vor allem um industrielle, exportstarke Kerne herum. Aber alte Industrie- und Bergbauregionen wie Lothringen oder Nord-Pas-de-Calais haben schwer zu leiden. Die Städte Valenciennes und Maubeuge weisen mit die höchste Arbeitslosenrate Frankreichs auf. Insgesamt verschwanden unter den Präsidenten Hollande und Sarkozy in Frankreich über 500.000 Industriearbeitsplätze, was vor allem dem wirtschaftspolitischen Reformstau und dem deshalb für das Land zu starken Euro geschuldet ist.

Vielerorts droht Frankreichs Produzierendes Gewerbe, zum Beispiel beim Einsatz von Robotern oder bei der Weiterentwicklung zur digital vernetzten Industrie 4.0, den Anschluß zu verpassen. Entsprechend ist die Arbeitslosigkeit mit zur Zeit knapp zehn Prozent seit Jahren doppelt so hoch wie in Deutschland. Wobei die eigentliche Misere aber in der Jugendarbeitslosigkeit von etwa 25 Prozent liegt. In Verbindung mit einem großen Teil der Jugend, der nur prekäre Arbeitsverhältnisse im Dienstleistungsgewerbe findet, wächst hier in Teilen eine weitgehend perspektivlose Generation heran.

Viele dieser auch durch ein krankendes öffentliches Schulsystem Abgehängten haben einen afrikanischen oder maghrebinischen Migrationshintergrund. Der macht sie anfällig für islamistische Propaganda. Nach Angaben der Sicherheitsbehörden sind zwischen 2012 und 2016 1.100 französische Staatsangehörige als Dschihadkämpfer nach Syrien gezogen. Viel zu viele driften darüber hinaus auch in die Kriminalität ab. Man kann Staatspräsident François Hollande nicht vorwerfen, diesen Zusammenhang nicht zu kennen und nicht reagiert zu haben. Ständig werden neue Beschäftigungsprogramme aufgelegt, um gerade Geringqualifizierte aus dem Teufelskreis von Arbeits- und Perspektivlosigkeit und schiefer Lebensbahn herauszuholen. Viel zu häufig verschwinden diese Arbeitsplätze aber wieder mit dem Auslaufen der Förderung. Auch aufgrund eines überbordenden Staatssektors, der 56,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmacht (Deutschland: 43,9 Prozent) und eine jährliche Neuverschuldung von zuletzt 3,4 Prozent des BIP verantwortet, ist kein Geld da, um in der Privatwirtschaft nachhaltige Impulse zu setzen. Die Präsidentenamtbewerber Emmanuel Macron und François Fillon versprachen im Wahlkampf, bei einem Wahlsieg 120.000 beziehungsweise 500.000 Beamtenstellen abzubauen.

Dieser Herausforderung einer immer mehr nach Ethnien und Religionen gespaltenen Gesellschaft versucht sich Frankreich kulturell und politisch durch strikten Laizismus und durch Betonung der republikanischen Gesinnung zu stellen. Schon seit 1905 sind in der französischen Verfassung Staat und Kirche streng getrennt. Seit 2004 ist es darüber hinaus untersagt, in staatlichen Schulen auffällige religiöse Zeichen wie Schleier, Kippa oder Kreuze zu tragen. Vergangenen Sommer lancierten darüber hinaus einige Bürgermeister von Badeorten am Mittelmeer, zum Beispiel in Nizza, ein „Burkini“-Verbot. Diese Verbannung muslimischer Ganzkörperbadekleidung wurde allerdings kurz darauf von Frankreichs höchstem Verwaltungsgericht wieder aufgehoben.

Auch den Sport – insbesondere den Fußball – versuchen Politik und Gesellschaft als einigendes Band und Beispiel gelungener Integration zu betonen. Das funktioniert aber nur, wenn die „Equipe Tricolore“ erfolgreich ist, wie beispielsweise 1998, als sie Fußballweltmeister wurde. Hinzu kommt, wie nicht nur der Philosoph Alain Finkielkraut kritisiert, daß in der Nationalmannschaft kaum noch nichtafrikanische Spieler zum Einsatz kommen, wodurch sich Herkunftsfranzosen nicht repräsentiert und an den Rand gedrängt fühlen.

Der Anteil von Atomstrom soll drastisch sinken

Vor diesem Hintergrund gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Tristesse verwundert nicht, daß Frankreich zumindest als globaler Akteur und immer noch fünftgrößte Wirtschaftsmacht versucht, an alte Größe anzuknüpfen. Eifersüchtig verteidigt die „Grande Nation“ ihren privilegierten Posten als eines von fünf ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen gegen jede Reform und die Begehrlichkeiten von EU-Politikern. Militäreinsätze wie im Irak oder im Tschad häufen sich, so daß sich wegen der Kosten schon der Landesrechnungshof beklagt. Und Generalstabschef Pierre de Villiers trat vor einiger Zeit in einem Gastbeitrag für Le Monde für ein „ausgewogenes militärisches Vorgehen“ ein.

Außerdem knirscht es im Getriebe von Frankreichs weltweiten Übersee­besitzungen, die auf einer Fläche vergleichbar der von Bayern und Nieder­sachsen immerhin 2,7 Millionen Menschen beherbergen und die traditionell vor allem mit Geld vom französischen Festland ruhig gehalten werden. Insbesondere in Französisch-Guayana kommt es zu handfesten Unruhen: Illegale Einwanderung, Kriminalität und noch mehr wirtschaftliche Perspektivlosigkeit bringen ein Klima der Destabilisierung. Im März blockierten Streikende tagelang Verkehr und Flughafen von Cayenne, so daß die Situation dort im Präsidentschaftswahlkampf aufgegriffen wurde.

Und weil all diese wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen noch nicht reichen, folgt Frankreich Deutschland seit 2015 auf dem teuren Weg der Energiewende. Bis 2030 will das Land 40 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Quellen gewinnen. Parallel soll der Anteil der Kernkraft an der Stromerzeugung bis 2025 von 75 auf 50 Prozent sinken. Außerdem sollen bis 2050 durch Gebäudedämmung und Elektromobilität 75 Prozent der CO2-Emissionen eingespart werden.

In dieser Gemengelage verwundert wenig, wenn allein 2016 – befeuert durch eine jederzeit wieder drohende Reichensteuer von 75 Prozent und eine „Solidaritätssteuer auf Vermögen“ – 12.000 Euro-Millionäre das Land verlassen haben. Das ist weltweiter Rekord und zeigt, wie weit sich das Land vom früher sprichwörtlichen „Leben wie Gott in Frankreich“ entfernt hat. Als prominentester (Steuer-)Flüchtling bezeichnete der Schauspieler Gérard Depardieu Frankreich einmal als ein trauriges Land, dem es vor allem an Energie zur Veränderung fehle. Es ist dem nächsten französischen Präsidenten – und damit Deutschlands wichtigstem Nachbarland – zu wünschen, daß das nächste Quinquennat nicht wieder fünf verlorene Jahre des politischen Herumlavierens werden.