© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/17 / 21. April 2017

Die Spaltung des Landes manifestiert
Türkei: Nach dem Verfassungsreferendum feiert die eine Hälfte der Türken, die andere zeigt sich schockiert
Marc Zoellner

Noch einmal knapp konnte eine Katastrophe für die Türkei abgewendet werden: Hunderte türkische Beamte waren vergangenen Samstag im Einsatz, um in sieben Stadtteilen der Millionenmetropole Istanbul gleich Dutzende Wohnungen sowie Geschäfts- und Lagerräume zu stürmen. Und das mit großem Erfolg: Denn neben einem gewaltigen Arsenal an Schußwaffen und Sprengkörpern stellten die Sicherheitskräfte auch ein Barvermögen von umgerechnet gut 300.000 Euro sicher – und nebenher ganze 49 Mitglieder der Terrorgruppe Islamischer Staat. Beinahe in letzter Minute scheiterte deren Plan, einen „aufsehenerregenden Terrorangriff“ am Tag des Verfassungsreferendums in der Türkei auszuführen.

Das knappe Ergebnis kam nicht überraschend 

Ungehindert konnten rund 55 Millionen Türken im Lande selbst sowie 2,9 Millionen im Ausland ihre Stimmen abgeben, um den Vorstellungen ihres Staatsoberhauptes Recep T. Erdogan vom Wandel des türkischen Systems hin zu einer Präsidialdemokratie zuzustimmen oder zu widersprechen. Der mit harten Bandagen geführte Wahlkampf versprach ein knappes Ergebnis. Und so kam es auch: Mit 1,3 Millionen Stimmen Vorsprung – also 51,4 Prozent aller gültigen Wahlzettel – setzte sich Erdogans islamisch-konservative AKP knapp gegen die sozialdemokratischen und sozialistischen Oppositionsparteien im Parlament, die CHP sowie die HDP, durch. Im Anschluß ließ sich Erdogan in seinem 2014 fertiggestellten Präsidentenpalast in Ankara feiern. Dabei sparte er nicht mit Kritik am Westen und den OSZE-Wahlbeobachtern, die einen „Mißbrauch staatlicher Ressourcen“ kritisiert hatten. Die Türkei werde ihren Weg weitergehen, erklärte der 63jährige vor seinen Anhängern. Dieses Land, so Erdogan weiter, habe die „demokratischsten Wahlen durchgeführt“, die je ein einziges Land im Westen erlebt habe. Gerade der Westen habe ohne Scham keine türkischen Minister nach Europa gelassen.

Tatsächlich kam das Ergebnis nicht überraschend: Denn schon im Vorfeld stand fest, daß die großen Städte des Westens, allen voran Istanbul, fest in der Hand der Referendumsgegner liegen würden, während der überwiegend ländlich geprägte Osten, die zentralanatolischen Provinzen und vor allem auch die Schwarzmeerküste als Heimatregion der Erdogan-Familie überwiegend mit ihrem Präsidenten sympathisieren dürften. In Istanbul und Ankara votierten gut 52 Prozent der Türken mit „Hayir!“, also mit einem klaren Nein! zum Verfassungsumbau; in Antalya ganze 60 Prozent und in Izmir und Edirne sogar 70 Prozent. Drei Viertel aller Bürger von Rize hingegen standen hinter ihrem Mann – und ebenfalls drei Viertel ihrer Landsleute in Dortmund. 

Die andauernden Belehrungen von Kommentatoren und Regierungen aus Westeuropa dürften ihr übriges dazu beigetragen haben, viele der bis zum Wahltag noch unentschlossenen Türken in die offenen Arme Erdogans zu treiben. 

Der türkische Präsident erhält durch die Abschaffung des Ministerpräsidenten nun mehr Befugnisse. Er wird neben dem Staats- künftig auch das Regierungsoberhaupt. Zudem kann er Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen, Minister ernennen, die nur ihm gegenüber verantwortlich sind, sowie sechs von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte bestellen. Während das Parlament die restlichen Plätze bestimmt, entfallen die bisherigen Mitwirkungsrechte der Richterschaft, der Justizakademie oder des Kassationshofs.

Das Parlament, das um 50 Sitze vergrößert wird, um die in der Türkei vorherrschende Zehnprozenthürde aufzuweichen, darf künftig sämtliche Präsidialerlasse mit einfacher Mehrheit überstimmen beziehungsweise außer Kraft setzen. Neuwahlen können sowohl die Nationalversammlung – mit 3/5-Mehrheit – als auch der Präsident ausrufen. Auch das passive Wahlrecht für politische Kandidaten wird massiv gesenkt – von 25 auf 18 Jahre. Überdies werden die Militärgerichte des Landes aufgelöst – und der Präsident darf wieder einer Partei angehören.

Opposition fordert Annullierung der Wahl

Doch auf eine Mitgliedschaft in der AKP, wie sie von Fraktionssprecher Mustafa Elitas bereits am Montag angeboten wurde, muß Erdogan noch eine ganze Weile warten: bis frühestens zum 3. November 2019. Dann findet – und auch das wurde im Referendum entschieden – die nächste Parlaments- und Präsidentenwahl statt. Aufgrund der kommenden Verfassungsänderung und der somit geschlagenen Stunde null der türkischen Republik darf auch Erdogan an dieser erneut als Kandidat teilnehmen. Ein Umstand, der besonders der kemalistischen CHP nicht schmeckt: Bereits am Tag nach der Wahl kündigten die Sozialdemokraten an, die zahlreichen Unregelmäßigkeiten des Wahlgangs dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorzutragen. „Der einzige Weg, die Debatten über die Rechtmäßigkeit des Referendums zu beenden“, erklärte Parteivize Bülent Tezcan der Presse, „ist, sein Ergebnis zu annulieren. Das Referendum wird seinen Platz auf den dunklen Seiten der Geschichte finden, und für immer als illegitim in Erinnerung bleiben.“