© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/17 / 21. April 2017

Vergessene Dauerfehden
Grenzstreitigkeiten: Es gibt mehr als man denkt / Heißer Tanz um Imia – Augenzwinkern bei der Hans-Insel
Marc Zoellner

Der Streitwert ist nicht groß: Gerade einmal fünf Hektar mißt die kleine Insel Imia, die sich mitsamt ihrer Zwillingsschwester buckelförmig aus dem Ägäischen Meer erhebt. Umgerechnet sind das kaum sieben Fußballfelder – zu klein, um Menschen dauerhaft dort anzusiedeln. Zumal es auf Imia weder Bäume noch Frischwasserquellen, weder beackerbares Erdreich noch abbaufähige Bodenschätze gibt. In ihrer ganzen Geschichte hinweg war Imia nichts weiter als ein karger, unbewohnter Fels, irgendwo im Nirgendwo des Mittelmeeres. Dennoch schreibt Imia noch heute Geschichte: nämlich jene zweier Nachbarstaaten, die in ihrer Jahrhunderte währenden Dauerfehde nicht davor zurückscheuen, auch um den kleinsten Quadratzoll an Vorposten militärisch miteinander zu ringen. Die Geschichte des kleinen Griechenland und der großen Türkei – als Nato-Partner offiziell verbündet, im bilateralen Verhältnis hingegen erbitterte Erbfeinde.

Der Türkei kommt der Konflikt mit Athen gelegen 

Seit mehreren Jahrzehnten liefern sich die beiden Nationen bereits ein Wettrüsten. Eines, das gerade den griechischen Staatshaushalt existentiell belastet. Spätestens seit Dezember scheint eine Schlichtung, speziell im Fall Imias, in unerreichbare Ferne gerückt. „In bezug auf Kardak“, so der Name der Insel auf türkisch, gebe es „keinen Wechsel unserer Politik“, bekräftigte der türkische Außenminister Mevlüt Çavusoglu kurz vor dem Jahreswechsel. „Kardak ist türkischer Boden. Solange die AKP an der Macht ist, wird sich am Rechtsstatus dieser Insel auch nichts ändern.“ Nur einen Tag später erfolgte prompt die Antwort seines Amtskollegen: „Griechenlands Souveränität über die Inseln der Ägäis, einschließlich Imia, ist unumstritten und fundiert auf internationalem Recht.“

Damit war der Streit vom Zaun – erneut, so muß hinzugefügt werden. Denn schon einmal, im Januar 1996, eskalierte der Konflikt um das unbewohnte kleine Eiland. Ein türkischer Frachter lief damals vor Imia/Kardak auf Grund. Griechische Patrouillenboote jedoch, die das havarierte Schiff bergen wollten, wurden von dessen Kapitän mit der Begründung abgewiesen, sie befänden sich in türkischen Hoheitsgewässern – somit wäre nur die türkische Marine zur Bergung berechtigt. 

Der Ortsvorsteher der benachbarten griechischen Insel Kalymnos ließ sich daraufhin Ende Januar 1996 auf Imia absetzen, um auf dieser die griechische Flagge zu hissen. Am folgenden Tag landeten Journalisten der Tageszeitung Hürriyet auf dem Eiland, entfernten die griechische Fahne und hißten, live im türkischen Fernsehen übertragen, das Banner der Türkei. Dieses wiederum wurde einen Tag später von griechischen Marineinfanteristen eingeholt, die griechische Flagge erneut aufgezogen. Über dreißig Kriegsschiffe beider Staaten waren zu jenem Zeitpunkt bereits in die Gewässer der Insel beordert worden und warteten auf ihre Einsatzbefehle. 

Lediglich die Vermittlung der US-Regierung sowie des damaligen Nato-Generalsekretärs Javier Solana verhinderten in letzter Minute einen Kriegsausbruch zwischen Griechenland und der Türkei.

Drei Tote waren trotzdem zu beklagen: die Besatzung eines griechischen Militärhubschraubers, welcher während seines Absturzes – bedingt durch technischen Ausfall, wie die offizielle Athener Version verlautet – auf den Klippen der Insel zerschellte. Griechische Nationalisten werfen den Türken jedoch vor, den Hubschrauber absichtlich abgeschossen zu haben. 

Der Türkei wiederum kommt der neu ausgebrochene Konflikt um Imia gerade recht. Denn immerhin fanden in Griechenland auch acht mutmaßlich am Putschversuch vergangenen Sommer beteiligte türkische Soldaten Asyl. Beharrlich weigert sich Athen, diese auszuliefern. 

Höchstpersönlich reiste von daher Hulusi Akar, Chef des Generalstabs der türkischen Armee, mit Marineeskorte an, um Imia einen Besuch abzustatten. Das Datum seiner Visite: genau am  Jahrestag des Absturzes ebenjenes griechischen Helikopters mit drei Toten. Seinen Empfang hatte sich Akar jedoch sicher anders vorgestellt: Griechische Torpedoboote versperrten dem General den Weg zur Insel und ließen ihn zurück in türkische Hoheitsgewässer abdrehen. Dem militärischen folgt seitdem verbales Säbelrasseln: Noch Mitte Februar drohte Çavusoglu in Richtung Athen, er könne Imia jederzeit, wenn er denn wolle, betreten. „Çavusoglu wird nie in der Lage sein, eine griechische Insel zu betreten“, tönte Panos Kammenos, Verteidigungsminister in Athen, zurück. „Soll er es doch versuchen. Ich schau dann, wie er wieder herunterkommt.“

Konflikte wie dieser sind global betrachtet keine Seltenheit, sondern eher die Regel. Rund 150 Grenzstreitigkeiten werden derzeit ausgefochten; verteilt auf sämtliche Kontinente dieser Welt. Oftmals geht es tatsächlich nur um das eine oder andere unbewohnte Eiland, ein Stück Wüste, den markanten Gipfel eines Berges, eine sich durch die Gezeiten verändernde Küstenlandschaft. Geographische Merkmale wie Flüsse, Meere und Gebirge spielten bei der Grenzziehung seit Menschengedenken  eine gewichtige Rolle. Sie waren für das Auge des Reisenden leicht zu bemerken, in Verträgen gut zu definieren und überdies auch ein willkommenes natürliches Hindernis für anrückende feindliche Heere. 

Doch je genauer die Vermessung der Welt stattfand, um so mehr verschwammen die einst klaren Grenzstriche in einem Konvolut an Deutungen und vorteilhafter Auslegung historischer Verträge.

Die Konflikte, welche aus diesen Interpretationen entstanden, sind oftmals bizarr, nicht selten auch blutig – und manchmal sogar unterhaltsam: So wie im Fall der Hans-Insel, einem felsigen Eiland von knapp anderthalb Quadratkilometern Fläche, im hohen Norden der Arktis gelegen, irgendwo zwischen der Westküste Grönlands und der Ellesmere-Insel. Seit sechshundert Jahren nutzen Angehörige der Inuit das karge Massiv, um während ihrer Jagdausflüge zu nächtigen. 

Seit 1973 streiten Dänemark und Kanada um den Besitz dieser Insel. Und das durchaus in aller Freundschaft: „Trotz aller [militärischen] Aktivitäten behalten beide Seiten ihren Humor über den Disput aufrecht“, berichtet Michael Byers, Professor für internationales Recht an der Universität von Vancouver, in seinem Buch „Who owns the Arctic?“ So habe Peter Taksoe-Jensen, ein ranghoher Jurist im dänischen Außenministerium, erzählt: „Wenn das dänische Militär hingeht, lassen sie eine Flasche Schnaps zurück. Und wenn die kanadischen Streitkräfte kommen, hinterlassen diese eine Flasche kanadischen Whiskey sowie ein Schild mit der Aufschrift: Willkommen in Kanada!“

Einen Streit ganz anderer Art führen wiederum Ägypten und der Sudan: nämlich um Bir Tawil, einen öden, menschenleeren Wüstenstrich südlich des 22. Breitengrads, die mehr oder minder offizielle Grenze beider Länder. 

Bir Tawil ist ein Sonderfall für sich – denn keiner der beiden Staaten möchte das Gebiet von der Größe des Saarlandes für sich beanspruchen. Ein Anspruch hieße nämlich, jenen auf das Hala’ib-Dreieck weiter östlich aufzugeben. Doch dieses ist weit vielversprechender, da es nicht nur bewohnt ist, sondern überdies auch Erdölvorkommen vermuten läßt. 

Deutschland ist um 500 Quadratmeter gewachsen

Das Hala’ib-Dreieck wird derzeit von Ägypten und dem Sudan gemeinsam verwaltet. Bir Tawil hingegen stellt, neben einigen Inseln in der Donau sowie einem Stück der Antarktis, die einzig noch verbliebene Terra Nullius dar – ein Niemandsland, das mehrfach schon abenteuerlustige Amerikaner angelockt hat, um dort ihr eigenes Königreich auszurufen.

Auch Deutschlands Grenzen sind nicht in Stein gemeißelt. Gerade die sächsisch-tschechische Grenze ist wortwörtlich fließend: Bachläufe markieren hier vielerorten das jeweilige Staatsgebiet. Einer davon ist die Kirnitzsch. Vergangenes Jahr hatte ein Kartograph aus der Region bemerkt, daß diese unbemerkt ihr Bett gewechselt habe – und Deutschland somit um gut 500 Quadratmeter gewachsen sei. Eine deutsch-tschechische Grenzkommission handelt derzeit den sonderbaren Staatszuwachs einvernehmlich aus.

Weit weniger einvernehmlich zeigt sich die Situation im Südchinesischen Meer. Hier beansprucht die Volksrepublik China gleich mehrere, bis an die Küstenregionen der Philippinen, Vietnams und selbst Malaysias reichende Inselgruppen für sich. Zwar entschied der für internationale Konflikte zuständige Ständige Schiedshof in Den Haag zuletzt vergangenen Juli gegen die Ansprüche Chinas. 

Doch Peking ließ sich von diesem Urteil nicht beeindrucken. In enormem Tempo schleppen chinesische Lastkähne seitdem Tonnen an Sand und Zement in die See, um Korallenriffe zuzuschütten und auf diesen künstliche Inseln zu errichten. Mit fatalen Folgen für die Umwelt: „Mehr als 20 Riffe in der Spratly-Region zeigen bereits Anzeichen für schwere ökologische Zerstörung“, erklärte Terry Hughes, Professor für Meeresbiologie an der Universität von Queensland, der britischen Zeitung The Guardian. „Auf die Fischerei an den Riffen und überhaupt im gesamten Südchinesischen Meer wird sich das sehr negativ auswirken, und das in einer Region dieser Welt, in welcher die Hochseefischerei von kritischer Bedeutung für Arbeitsplätze, für die Kultur, für die Ernährung, für die Wirtschaft und für den Weltfrieden ist.“

Raketensilos auf kargem Fels

Erst kürzlich offenbarten Satellitenfotos die Bedeutung dieser künstlichen Inseln für Peking. Auf der „Großen Sandmauer“, wie asiatische Medien das Inselprojekt Chinas nennen, hatte die Volksrepublik bereits Dutzende „große Flugabwehrkanonen sowie mutmaßliche Nahbereichsverteidigungssysteme (CIWS) errichtet“, deckte die Asian Maritime Transparency Initiative (AMTI) in einem vom Dezember stammenden Bericht auf. Selbst Raketensilos seien geortet worden. Was für die Anrainerstaaten nahezu einer kriegerischen Provokation gleichkommt, ist für Peking hingegen eine lukrative Kapitalanlage: Denn immerhin stammen aus dem Südchinesischen Meer gut zwölf Prozent sämtlicher weltweit gefangenen Meeresfische. Überdies werden auf dem Grund der See bis zu elf Milliarden Barrel Erdöl sowie fünf Billionen Kubikmeter Erdgas vermutet. Wer sich die Seerechte sichert, der sichert sich damit auch diese Naturschätze.

Vor Imia gibt es keinen solchen Reichtum. Hier prallt allein der Stolz zweier Nationen aufeinander, deren wechselhafte Geschichte stets nur in Besetzung und Befreiungskriege, in ethnische Säuberungen und die gewaltsame Spaltung ganzer Republiken – so wie jene Zyperns – mündete. Im Vertrag von Lausanne wurde 1923 geregelt, daß die Türkei für sämtliche Inseln innerhalb der Dreimeilenzone die Souveränität behalte; die Besitzansprüche über die Inselgruppe des Dodekanes sowie sämtliche Eilande in deren Einzugsgebiet fielen jedoch Italien und nach dem Zweiten Weltkrieg Griechenland zu. Auf Imia treffen beide Definitionen nicht zu. Den Haager Schiedshof anzurufen und den maritimen Grenzverlauf endgültig festzulegen, fürchten von daher beide Staaten zu Recht.





Grenzkontroversen der Nachbarn

l Olivenza /Olivença, die zu Spanien gehörende Stadt in der Autonomen Gemeinschaft Extremadura wird auch von Portugal beansprucht.

l Rockall, Großbritannien annektierte die 642 Quadratmeter große Felseninsel im Nordostatlantik 1972. Vor allem Irland, Island und Dänemark erheben Ansprüche. Für Interesse sorgen große Erdölvorkommen, die unter dem Meeresgrund lagern.

l Bucht von Piran, Streit um Verlauf der Grenze in der nördlichen Adria zwischen Slowenien und Kroatien. 

l Îles Glorieuses (nördlich Madagaskar) Die tropische Inselgruppe gehört seit 1892 zu Frankreich. Seit seiner Unabhängigkeit 1960 beansprucht Madagaskar die Inseln. Auch die Seychellen und die Komoren erheben Ansprüche. Von Interesse ist die bedeutende Wirtschaftszone von knapp 50.000 Quadratkilometern. 

l Südossetien: Völkerrechtlich gehört das Gebiet mit seinen 50.000 Einwohner zu Georgien, gibt sich de facto jedoch unabhängig. Lediglich Rußland, Nicaragua und Venezuela erkennen die Souveränität Südossetiens an.

l Shetlands: Formell besteht noch ein norwegischer Souveränitätsanspruch auf die zu Großbritannnien gehörenden ölreichen Inseln, da Oslo die Inseln 1468 an Schottland verpfändete – aber nie offiziell abtrat.