© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/17 / 21. April 2017

Die Steine sprechen deutsch
Ein Besuch in Breslau: Identitätsstiftende Vergangenheit und polnische Geschichtsschreibung
Thorsten Hinz

Der Große Ring (polnisch: Rynek) in Breslau ist in Wirklichkeit ein rechteckiger Marktplatz mit einer Kantenlänge von 200 mal 175 Metern, der von prachtvollen und sorgfältig restaurierten Bürgerhäusern gesäumt wird. Er bildet den Rahmen für ein Gebäudeensemble, das sich zu einem gleichfalls prächtigen Karree formiert. Zu ihm gehören das Alte und das im 19. Jahrhundert errichtete Neue Rathaus. An prominenter Stelle steht hier das Denkmal für den polnischen Komödiendichter Alexander Fredro (1793–1876). Es nimmt exakt den Platz ein, der bis 1945 für das Reiterdenkmal des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm III. reserviert war. 

Fredro stammt aus Ostpolen und starb in Lemberg, wo sich ursprünglich auch sein Denkmal befand. Als die Stadt 1945 ukrainisch wurde, nahmen die Polen es nach Westen mit. Über Warschau kam es 1956 nach Breslau. Sein Anblick versetzt dem deutschen Betrachter zunächst einen Stich. Er kommt aus dem Verlustschmerz und aus dem spontanen Gefühl historisch-kultureller Illegitimität, welches auch Max Frisch überwältigte, als er die – damals noch schwer zerstörte – Stadt 1948 besuchte. Die aufdringlichen „Gebärden der Beschwörungen“, mit denen die neuen Besitzer das polnische Wroclaw zu beglaubigen versuchten, quittierte er mit der doppelbödigen Bemerkung: „Schlesien, das ungeheure Geschenk“. 

Fredro wird im Land als polnischer Moliére verehrt, doch mit Schlesien und Breslau hatte er nichts zu tun. Im Unterschied etwa zum Lyriker Johannes Scheffler, besser bekannt als Angelus Silesius, zu Andreas Gryphius, Joseph von Eichendorff oder Gerhart Hauptmann. Doch ein deutsches Dichterdenkmal an dieser symbolischen Stelle würde heute kaum weniger anachronistisch wirken als ein preußisches Reiterstandbild. Die Steine sprechen zwar deutsch, aber die Verkehrssprache ist nun mal polnisch. 

Aus den widersprüchlichen Empfindungen, die sich daraus ergeben, hilft die Historisierung heraus. Die Plazierung des Fredro-Denkmals im Herzen der schlesischen Hauptstadt hatte einen Doppelcharakter: Sie war nach innen und außen eine politische Demonstration und zugleich der Versuch, für jene, die hier ab 1945 sich freiwillig oder gezwungenermaßen ansiedelten, eine symbolische Heimatlichkeit zu begründen. 

Damit wurde eine interessante und wohl unvorhergesehene Entwicklung angestoßen. Gerade in Breslau kann man besichtigen, daß Heimatlichkeit sich nicht durch brüchige Legenden wie die von den „wiedergewonnenen Gebieten“ herstellen läßt, sondern nur durch die unverstellte Aneignung des geschichtlich-kulturellen Erbes.

Büste und Denkmal für Dietrich Bonhoeffer

Im Alten Rathaus, dessen Anfänge in die Gotik zurückreichen und das heute als museale und Repräsentationsstätte genutzt wird, sind wie selbstverständlich die Büsten bekannter deutscher Schlesier aufgestellt. Neben den großen Dichtern werden unter anderem der hingerichtete Widerständler Dietrich Bonhoeffer, der Chemiker Fritz Haber und die zum Katholizismus konvertierte Breslauer Jüdin Edith Stein geehrt, die 1942 in Auschwitz ermordet und 1998 durch Johannes Paul II., den „polnischen Papst“, heiliggesprochen wurde.

Das Stadtmuseum ist – wie bis 1945 – im wiederaufgebauten Stadtschloß untergebracht. Friedrich II. hatte es 1750 gekauft. Hier durchlebte er während des Siebenjährigen Krieges seine bittersten Stunden. Im Dezember 1761 erachtete er seine Lage als so übel, daß ihn nur die Fortuna retten könne. Eine Frist bis zum Februar wolle er sich noch geben, schrieb er einem Vertrauten, dann würde sich entscheiden, ob er sich aus einem mitgeführten Fläschchen bedienen wolle. Im Januar 1762 starb die Zarin Elisabeth, das Mirakel des Hauses Brandenburg trat ein, Preußen war gerettet. Hier stiftete sein Nachnachfolger Friedrich Wilhelm III. das Eiserne Kreuz und erließ im Jahr 1813 den Aufruf „An mein Volk“, der zum Kampf gegen die napoleonische Fremdherrschaft aufrief.

Die historischen Räume sind wiederhergestellt. Die Ausstellung zur Geschichte der Stadt und Schlesiens wurde mit Sachlichkeit, Objektivität und viel Sympathie konzipiert. Sogar die Feldherrenqualitäten Friedrichs II., der immerhin an der Ersten Teilung Polens mitwirkte, werden gewürdigt. Auch die preußisch-deutsche Perspektive auf Napoleon wird respektiert, obwohl die Niederlage des französischen Kaisers die Hoffnungen der Polen auf die Wiederherstellung ihres 1795 durch Rußland, Preußen und Österreich zerschlagenen Staates zunichte machte. Vor allem läßt die Ausstellung überhaupt keinen Zweifel daran, daß Breslau bis 1945 eine deutsche Stadt war und die Abtrennung Schlesiens von Deutschland keinerlei historische Berechtigung hatte, sondern sich aus den Verwerfungen des Zweiten Weltkriegs erklärt.

Die mächtige Elisabethkirche, die sich die Breslauer Bürgerschaft als Konkurrenzbau zum Dom errichtet hatte, der die Macht des Klerus repräsentierte, wurde nach 1945 rekatholisiert und zur Garnisonkirche umgestaltet. Sie ist ein Ort der polnischen Martyrologie, wo an das Massaker von Katyn und an die Verschleppung vieler Polen nach Sibirien erinnert wird. Wieder verspürt der deutsche Besucher einen Stich, denn die Gedenktafeln mit den Namen deutscher Gefallener fehlen. Vor der Kirche wurde immerhin ein Denkmal für Dietrich Bonhoeffer aufgestellt.

Die Vertreibung der Polen aus dem Lemberger Gebiet spiegelt sich bis heute in Breslau wider. Im  einstigen Mat-thiasgymnasium, das von 1659 bis 1945 existierte, hat seit 1947 das Ossolineum seinen Sitz, das 1817 in Lemberg gegründet wurde und ein Forschungsinstitut, eine Bibliothek und einen Verlag unter seinem Dach vereint. Es war und ist eine zentrale Institution polnischen Kultur- und Geisteslebens. Im Garten befindet sich neben einem modern anmutenden Denkmal für Angelus Silesius (der seine letzten Jahre im Matthiasstift verbracht hatte) auch das Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs. Die Inschrift lautet: „Das Matthiasgymnasium seinen im Weltkriege gefallenen Söhnen. Frei wollen wir das Vaterland wiedersehen oder frei zu den glücklichen Vätern gehen.“ Auf einer Zusatzplatte ist heute auch zu lesen: „Zur Erinnerung an die an der Front des 1. Weltkrieges gefallenen Lehrer und Schüler des Matthiasgymnasium (Matthersianum). Gefunden und restauriert durch das Nationalinstitut Ossolineum im Jahre 2007“.

Landsmannschaft änderte ihr Motto

1991 wurden die Gebeine von Adolf Kardinal Bertram, dem letzten deutschen Erzbischof Breslaus, im Dom beigesetzt.  Dort befindet sich allerdings auch eine Gedenktafel für August Kardinal Hlond, der nach 1945 die Polonisierung der ostdeutschen Kirchenbezirke betrieb. Für den Ausgleich sorgt das Denkmal des Breslauer Erzbischofs Boleslaw Kardinal Kominek, der 1965 den berühmten Brief der polnischen Bischöfe an die deutschen Amtsbrüder formuliert hatte. Er gipfelte in dem hier auf deutsch und polnisch wiedergegebenen Satz: „Wir vergeben und bitten um Vergebung.“

Im Ergebnis verbindet sich mit dem Fredro-Denkmal auch für den deutschen Betrachter kein verletzendes Auftrumpfen mehr, sondern die unbestreitbare Tatsache, daß seit 70 Jahren in Breslau vornehmlich polnische Geschichte geschrieben wird. Unbestreitbar ist aber auch, daß die deutsche Vergangenheit nicht nur akzeptiert, sondern aktiv in das Selbstbild integriert wird und identitätsstiftend wirkt.

1985 änderte die Schlesische Landsmannschaft ihr Jahresmotto „Schlesien bleibt unser“ nach heftiger Kritik in den Leitsatz ab: „Schlesien bleibt unsere Zukunft in einem Europa freier Völker“. Darin steckt absehbar viel mehr Wahrheit, anders als man damals dachte.