© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/17 / 21. April 2017

Feuerzungen im Untergrund
Im Zeittunnel: Götz Friedrichs legendäre Berliner Inszenierung „Der Ring des Nibelungen“ wurde zum letzten Mal gezeigt
Sebastian Hennig

Zu den diesjährigen Salzburger Osterfestspielen wurde „Die Walküre“ in einem fünfzig Jahre alten, rekonstruierten Bühnenbild aufgeführt. Jenen sängerfreundlichen und werkgerechten Zugang, den in Salzburg die bulgarische Regisseurin Vera Nemirova behutsam inszenierte, konnte man zur selben Zeit in Berlin als Ergebnis einer dreißigjährigen Kontinuität erleben. Mitte der achtziger Jahre hatte Götz Friedrich (1930–2000) Richard Wagners „Der Ring des Nibelungen“ auf die Bühne der Deutschen Oper gebracht. Über fünfzigmal wurde dieser „Ring“ gegeben, unter anderem mit Rene Kollo, Siegfried Jerusalem, Hildegard Behrens, Matti Salminen, Peter Hofmann, Júlia Várady, Kurt Rydl und Gwyneth Jones. 

Die zentrale Raumidee des Berliner „Rings“ verdankt sich einer spontanen Eingebung. Wenige Monate vor der „Rheingold“-Premiere beflügelte ein Foto der Washington Metro den Regisseur dazu, sein ganzes bisheriges Konzept umzustoßen. Damals folgte im Abstand von drei Wochen „Die Walküre“. Götz Friedrichs Inszenierung gilt heute als klassisch, dabei ist sie nicht frei von den Merkmalen des damaligen Zeitgeists. Dieser drückt sich in der düsteren und klaustrophobischen Grundstimmung aus. Statt ein Walhall über den Wolken zu beziehen, vegetieren die Götter in einem öden Gewölbe. Die Rheintöchter bewegen sich wie „glykolverseuchte Fische“. Davon waren begreiflicherweise 1984 nicht alle Besucher sofort erfreut. Für uns aber, die wir gleichermaßen Überlebende der atomaren Bedrohung, des sicher verhießenen Waldsterbens wie auch des deutschen Regietheaters sind, fühlt sich diese Untergangsbeschwörung heute beinahe wohlig an. Das bedrohliche Menetekel Götz Friedrichs ist nämlich unterdessen zu einer gediegenen Kalligraphie erstarrt. Der an die Wand gemalte Teufel kommt uns angesichts der gegenwärtigen Weltverhältnisse beinahe kuschlig vor.

Der Gesang wird nicht von der Kulisse erdrückt

In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, daß Götz Friedrich selbst für die Einstellung der Produktion plädierte. Dieser „Ring“ habe sich abgespielt, meinte der Regisseur just in dem Zustand, da er sich gerade erst eingespielt hatte. Elf Jahre lang wurde er jede Spielzeit aufgeführt, und auch ab 1997 gibt es nur gelegentlich einjährige Pausen.

Mit einem Gastspiel in Yokohama und Tokio wurde im Herbst 1987 den Japanern zum erstenmal Wagners komplette Tetralogie gezeigt. In Washington war die Berliner Produktion im Sommer 1989 zu sehen. Als in der Londoner Oper in Covent Garden zu Beginn der neunziger Jahre ein „Ring“ nach dem Vorabend zu scheitern drohte, griff man dort auf die Berliner Inszenierung zurück. Friedrich hatte Wagners Tetralogie schon einmal zwischen 1973 und 1976 am Royal Opera House inszeniert.

Abgespielt hat sich vor allem die materielle Substanz des Bühnenbildes. Nach der letzten und 52. „Götterdämmerung“ am 17. April wird die inzwischen marode gewordene Konstruktion nun verschrottet. Damit sind die achtziger Jahre endlich auch in West-Berlin zu Ende gegangen. Ab 2020 soll dann an der Bismarckstraße eine neue „Ring“-Inszenierung von Stefan Herheim beginnen. Der Norweger hat von 1994 bis 1999 Opernregie bei Götz Friedrich in Hamburg studiert.

Das Bemerkenswerte an dessen Inszenierung liegt eher in den Passiva des Unternehmens. Sie machen den Weg zu Wagners Kunst frei. Was heute angenehm auffällt, war damals eher beiläufig aus der professionellen Erfahrung erwachsen. Der Gesang wird nicht von der Kulisse erdrückt. Der gigantische Tunnel bietet Resonanzraum. In der beklemmenden Welt des Untergrunds erfreuen Inseln des Naturalismus, die Bühnenbildnern wie  Alfred Roller oder Günther Schneider-Siemssen zur Ehre gereichen.

In der Schmiedeszene wird ganz zünftig glühendes Eisen in Form gebracht. Friedrich charakterisiert seine Figuren mehr in der Gestik, anstatt deren Kostüm zu überfrachten. Die Notizen von den Proben im Begleitheft enthalten eine Menge von seltsamen Zuweisungen. Mime wird als „ein plebejischer Einstein“ gedacht, Erda als „weiblicher Mohammed“ und Brünnhilde als „aristokratische Edelziege“.

Solche Assoziationen verlieren sich auf der Charlottenburger Mammutbühne. Bereits dem Zuschauer auf den Logen-Balkonen, die aus unerfindlichen Gründen als Bestandteil des Parketts gelten, liegen die Spitzfindigkeiten im Wortsinne fern. Und wer hier ganz rechts und links sitzt, an dem ist sogar die unendliche Symmetrie des Zeittunnels verschwendet. Die Auftritte und Abgänge der Figuren entfalten sich in der ganzen unverstellten Tiefe des Raumes. Um den Walkürenfelsen schlagen sieben große Feuerzungen in die Höhe. Die gewaltige Röhre gibt einem Drachen Raum, der so groß wie die Förderbrücke eines Braunkohletagebaus wirkt. Siegfried (Stefan Vinke) stößt ihm dann Notung irgendwo zwischen zwei Stahlstreben.

Wagners Anweisungen sind genau umgesetzt

Viele Inszenierungen dieses ebenso großen wie großartigen Werkes beginnen hochambitioniert und zerfasern zum Schluß. Sie scheitern am eigenen überspannten Anspruch. Pierre Audis Inszenierung zeigte das vor einigen Jahren an der Amsterdamer Oper (JF 8/14). In Berlin ist es gerade umgekehrt. Erst gegen Ende des „Siegfried“, wenn der Tunnel zum Wald wird, beginnt das Sichtbare mit der Musik übereinzustimmen. Der schweifende Beziehungsreichtum erlebt dann zuletzt die stärkste Schärfung. Die Gestaltung des Unterganges ist so beeindruckend, daß es angebrachter wäre, statt von dem Götz-Friedrich-Ring von der Götz-Friedrich-Götterdämmerung zu reden.

Donald Runnicles, der gegenwärtige Generalmusikdirektor der Deutschen Oper, ist im Unterschied zu Christian Thielemann, der jetzt in Salzburg die „Walküre“ dirigierte, kaum mehr als ein biederer Musikhandwerker. Im Zweifel läßt er vor allem laut spielen. Doch das traumhaft gute Quartett aus Evelyn Herlitzius (Brünnhilde), Stefan Vinke (Siegfried), Ain Anger Hagen) und Ricarda Merbeth (Gutrune) in der „Götterdämmerung“ verleiht der Handlung soviel Schwung, daß selbst das Orchester mitgerissen wird. An dem Esten Ain Anger hätte der Regisseur seine helle Freude gehabt. Er gibt jenen klaren und bedachten Hagen, der Friedrich vorgeschwebt hat, als er während einer Probe meinte, ein dramatischer schwarzer Baß sei keineswegs gleichbedeutend mit Bosheit.

In diesem letzten Teil der Tetralogie sind die originalen Handlungsanweisungen Wagners nicht nur genau umgesetzt. Sie werden in ihrer Bedeutung auch verstärkt. Da wird nichts verwaschen zugunsten greller Effekte. Farbe und Form sind bedachtsam abgestimmt auf die Handlung. Der Chor gruppiert sich wirkungsvoll. Aus den schwarzen und roten Gewändern mit den metallischen Lanzen ergeben sich Bildwirkungen wie auf Rembrandts späten Gemälden.

Als Brünnhilde Siegfried erscheint, hält sie ihm ein weißes Leichentuch entgegen. Im Finale der „Götterdämmerung“ trägt sie dann schwarze Trauerkleidung. Die beringte Hand des sterbenden Siegfried reckt sich empor, als Hagen sich den Ring greifen will. Mit sichtbarer Mühe wird der Leichnam von den Mannen aufgenommen. Als Opfer seiner eigenen Gier versinkt Hagen in den Fluten, die ganz schlicht und äußerst wirksam aus Tüchern gebildet sind. Als ein gewaltiges Echo des abschreckenden Stahls in der Schmiedeszene des „Siegfried“ bricht zuletzt ein Lichtschlag in das Flammenmeer. Der Tunnel bleibt wie mit einem weißen Gletscher ausgekleidet zurück.

Foto: Siegfried (Stefan Vinke) und Brünnhilde (Ricarda Merbeth) in der „Siegfried“-Vorstellung am 5. April 2017: Nichts wird verwaschen zugunsten greller Effekte. Farbe und Form sind bedachtsam abgestimmt auf die Handlung