© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/17 / 21. April 2017

Ein Kleinod in Zaunkönigs Krähwinkel
Torsten Foelsch hat einen Prachtband über das nach 1945 zerstörte Residenzschloß zu Neustrelitz vorgelegt
Thorsten Hinz

Das alte Mecklenburg, das heute mit dem deutschen Restpommern das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern bildet, gab es bis 1933 sogar doppelt. Ein dynastischer Streit um die Thronfolge war 1701 in einem Vertrag, dem sogenannten Hamburger Vergleich, beigelegt worden, der die Teilung in zwei autonome Herzogtümer (ab 1815 Großherzogtümer) festlegte, die eng miteinander verbunden blieben. Neben dem größeren Mecklenburg-Schwerin gab es nun das kleine Mecklenburg-Strelitz, das wiederum aus zwei Gebietsteilen bestand: der Herrschaft Stargard, dem Kernland um die Mecklenburgische Seenplatte, sowie dem Fürstentum Ratzeburg 150 Kilometer weiter westlich, das mit einigen Exklaven heute zu Schleswig-Holstein gehört. 

In Mecklenburg-Strelitz ließ Fritz Reuter seinen Roman „Dörchläuchting“ spielen. Der niederdeutsche Diminutiv für den Fürsten entsprach dem Gewicht des Landes, dessen wichtigste politische  Leistung darin besteht, Preußens legendäre Königin Luise hervorgebracht zu haben. Die beiden Mecklenburgs verfügten im Bundesrat des Kaiserreichs über je einen Sitz. Als einzige Gliedstaaten besaßen sie bis 1918 statt gewählter Volksvertretungen nur einen ständisch zusammengesetzen Landtag, der für beide Landesteile zuständig war.

Die staatliche Eulenspiegelei überdauerte auch die Novemberrevolution und wurde erst durch ein Machtwort der Nationalsozialisten beendet. Architektonisch und kulturhistorisch trug sie allerdings reiche Früchte. Das kleine Land, das durch glückliche Umstände viel wohlhabender war als sein größeres Doppel, benötigte eine eigene Residenz, was zu einer regen, sich über fast 200 Jahre erstreckenden Bautätigkeit führte. Doch während das Schloß in Schwerin bis heute den Mittelpunkt der Altstadt bildet und dem Landtag ein prächtiges Ambiente bietet, führt heute der Blick vom Neustrelitzer Markt über die Schloßstraße ins Leere. Unmittelbar vor Kriegsende ging das Residenzschloß in Flammen auf, die Ruine wurde bis 1950 abgetragen.

Der Architekturexperte und Denkmalschützer Torsten Foelsch, der schon zahlreiche Publikationen zur brandenburgischen und ostpreußischen Baugeschichte veröffentlicht hat, darunter einen prachtvollen Bildband über die zerstörten Dohnaschen Schlösser Carwinden und Schlodien in Ostpreußen (JF 26/15), hat das verschwundene Schloß im Geiste wiederauferstehen lassen. 2,3 Kilogramm wiegt die auf Hochglanzpapier gedruckte Schloßmonographie und enthält auf gut 700 Seiten mehr als 600 Abbildungen, die meisten davon historische, weithin unbekannte Fotos. Das Buch ist eine Pionierarbeit, denn die nachträglichen Veröffentlichungen zum Residenzschloß beruhten ausschließlich auf älteren Arbeiten; neue Forschungen fanden nicht mehr statt.

Wie so oft beginnt auch hier die Schloßgeschichte mit dem Brand des Vorgängerbaus in Altstrelitz, der den Umzug in ein Jagdschloß nötig machte. Was als Provisorium gedacht war, wurde 1733 zum Ausgangspunkt für ein neues Residenzschloß und eine neue Stadt – Neustrelitz. Es wurde mehrmals umgebaut und erweitert, zuletzt zwischen 1905 und 1909. Ab jetzt bildete der Eosanderturm, der dem Turm des Schlosses Charlottenburg in Berlin nachempfunden war, seine eindrucksvolle Dominante. So kompensierte der Bundesfürst den definitiven Bedeutungsverlust, den er mit der Reichsgründung erlitten hatte und demonstrierte monarchisches Selbstbewußtsein, sogar einen neuen Thronsaal leistete er sich. 

Niemand ahnte, daß das Ende der Herrlichkeit kurz bevorstand. Der Schloßbau bot ein barock-klassizistisches Bild. Zahlreiche Grundrisse erlauben einen Einblick in die Wohnverhältnisse. Zum Apartment der Großherzogin gehörten gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein Musik-, ein Wohn- und Arbeitszimmer, ein Schlafzimmer, ein Boudoir sowie ein Garderobenzimmer mit Bad. Der Großherzog verfügte über eine beeindruckende Bibliothek. Die Fotos aus dieser Zeit zeigen freilich auch den typischen Gründerzeitplüsch und Nippes; der Hochadel war nicht weniger stilunsicher als das reich gewordene Bürgertum der Gründerzeit und des Wilhelminismus.

Der letzte Großherzog setzte im Februar 1918 kaum 36jährig seinem Leben ein Ende. Er war unverheirat und kinderlos geblieben. Die Landesverwesung ging vertragsgemäß an den Großherzog von Mecklenburg-Schwerin über. Der Streit über die Thronfolge wurde jedoch mit der Novemberrevolution hinfällig. Die Fürstenfamilie wurde großzügig abgefunden. Die Großherzogin-Mutter zog in das repräsentative Parkhaus, das noch zwischen 1913 und 1916 errichtet worden war. 

Das Schloß diente fortan als Museum, Archiv, Bibliothek und als Sitz des jetzt demokratisch gewählten Landtags. Die 35 Abgeordneten fanden bequem Platz im Gelben Saal, wo sie direkt auf die Porträts des russischen Zarenpaares Nikolaus I. und seiner Gattin blickten. Nach dem Zusammenschluß beider Mecklenburgs wurde viel Archiv- und Museumsgut nach Schwerin verbracht und im Schloß die „Führerschule“ des Berliner Hochschulinstituts für Leibesübungen eingerichtet.

Über sein Ende gibt es unterschiedliche Versionen. Die eine macht den Vandalismus der am 30. April 1945 eingerückten Roten Armee verantwortlich. Andere wollen gesehen haben, daß der Brand bereits am 29. April, kurz nach Abzug der Wehrmacht, ausbrach. In den Wochen zuvor waren aus Berlin große Mengen Aktenkisten angeliefert worden. Gleichzeitig wurden zahlreiche Benzinkanister im Schloßhof gesichtet. Möglicherweise war eine großangelegte Aktenvernichtung außer Kontrolle geraten.

Wiederaufbau des Schlosses Neustrelitz als Fernziel

Dem Feuer fiel sämtliches Inventar zum Opfer. Was in den Kellerräumen erhalten blieb, wurde geplündert, und das meiste wurde wohl als Beutekunst in die Sowjetunion verbracht. Bis heute gibt es keine genaue Übersicht über die Kriegsverluste. Vernichtet wurde auch die Nebenresidenz in Neubrandenburg, die die Städtischen Kunstsammlungen beherbergte. Das im Besitz der Fürstenfamilie verbliebene Landschloß Remplin, das zahlreiche Kunstgegenstände, wertvolle Möbel und Archivalien barg, war bereits 1940 abgebrannt. Als Ursache wird Brandstiftung vermutet.

Heute erinnert eine Metallkonstruktion an den Eosanderturm, der Schloßpark gehört zu den schönsten Parkanlagen von Mecklenburg-Vorpommern, die Nebengebäude sind teilweise restauriert. 1998 gründete sich ein Residenzschloß-Verein, der das Bewußtsein für die Bedeutung dieses Ortes schärfen will. Der Wiederaufbau ist sein Fernziel. Das Buch von Torsten Foelsch würde dazu den Grundstein bilden.

Es ist mit so viel Beharrlichkeit, Sachkunde und Akkuratesse verfaßt, daß man sich schwertut mit Kritik. Dennoch sei der Hinweis gestattet, daß die Monographie mit fortlaufender Lektüre ein wenig monoton wirkt. Es fehlt die Darstellung höfischen Lebens. Wie wurde in den Räumen regiert, gefeiert, gegessen? Wie wirkte das Schloß auf das gesellschaftliche Leben der Stadt und umgekehrt? Welche Staatsgäste wurden empfangen? Immerhin waren die Duodez-Fürsten bis zuletzt nominelle Staatsoberhäupter. Helmut Reicholds „Bismarcks Zaunkönige“ oder Karl Nahmmachers 1933 erschienenes Buch „Neustrelitz vor 50 Jahren“ hätten Hinweise und Anregungen bieten können.

Doch diese Einwände schmälern die Leistung des Autors überhaupt nicht. Sein reich ausgestattetes Buch schlägt den Betrachter in den Bann wie ein guter, nostalgischer Roman.

Torsten Foelsch: Das Residenzschloß zu Neustrelitz. Ein verschwundenes Schloß in Mecklenburg. Foelsch & Fanselow Verlag, Groß Gottschow 2016, gebunden, 739 Seiten, Abbildungen, 49,80 Euro