© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/17 / 28. April 2017

In Wagenburgen verschanzt
Nervöse Republik: Das Publikum spürt, daß Politik und etablierte Medien überfordert sind
Thorsten Hinz

Sie eilen, unsere Spitzenpolitiker, durch die lichtdurchfluteten Atrien ihrer Parteizentralen, durch die chrom-grün-edelhölzernen Treppenhäuser und hängenden Gärten der Bundestagsbauten, das Smartphone vor Augen und das Handy am Ohr. Sie entschweben in gläsernen Fahrstühlen, tauschen wissende Blicke und kryptische Worte, deren Sinn sich nur Eingeweihten erschließt. Dienstbare Geister öffnen ihnen den Wagenschlag der Limousinen, in denen sie zum nächsten unaufschiebbaren Termin gleiten. Das Ambiente verleiht jeder Äußerung und Geste den Anschein äußerster Wichtigkeit. Noch die unscheinbarste Person wird von der Aura der Exklusivität und des Arkanwissens umstrahlt.

Die Reportage „Nervöse Republik – Ein Jahr Deutschland“ des Dokumentarfilmers Stephan Lamby, die vergangene Woche ausgestrahlt wurde, wird von den subkutanen Botschaften solcher Bilder bestimmt. Ja, die Macht macht jene, die an ihr teilhaben, interessant und begehrenswert. Plötzlich werden kleine Männer für mittelgroße Schauspielerinnen interessant. Das erklärt, warum so viele dieses Leben, das wahrlich kein Zuckerschlecken ist, das permanente Erreichbarkeit, Wachsamkeit, Selbstverleugnung erfordert, dennoch für erstrebenswert halten. Sogar ein Herzschrittmacher kann als Statussymbol dienen, das von Unverzichtbarkeit der Person kündet und das Selbstgefühl hebt.

Ähnlich sieht es in den großen Zeitungsredaktionen aus. Lamby (57) hat den Spiegel und Springers Bild-Zeitung besucht und hier wie dort einen kleinen Rat der Götter vorgefunden, der die Welt nicht nur erklären, sondern auch ein bißchen lenken möchte. Die Verlagsgebäude in Hamburg und Berlin wurden gebaut oder erweitert, als der Glaube an die Macht des eigenen Mediums ungebrochen war. Wie bei den Regierungsgebäuden wurde als Baustoff Glas bevorzugt, das nach einem gängigen Vorurteil transparent und demokratisch wirkt. Doch das Material kann auch abweisend, hart, kalt und in der Massierung anmaßend und bedrohlich wirken.

Tatsächlich sind die Glaspaläste zu Wagenburgen geworden, in denen sich ein politisch-medialer Komplex vor der Wirklichkeit verschanzt und von wo aus er seinen Definitions- und Herrschaftsanspruch verteidigt. Doch die Wirklichkeit entgleitet ihm immer mehr.

Das wohlgemute „Wir schaffen das“ der Kanzlerin war ein Treppenwitz, dessen böse Pointe den Leuten allmählich aufgeht. Islamismus, Terrorismus, die nicht enden wollende, gar nicht enden könnende Euro-Krise, die Trump-Wahl – nichts ist mehr, wie es sein sollte. Entgeistert blicken die Spiegel-Jungs auf die Monitore, wo die Hochrechnungen den Brexit zur Gewißheit werden lassen. Das Pfund fällt auf den tiefsten Stand, tröstet sich der Wirtschaftsredakteur, doch auch das ist nur eine Momentaufnahme. Die sozialen Medien machen den alten Schlachtrössern die Leser abspenstig, die Auflagen sinken, und die giftigen Leserkommentare, die blitzschnell via Internet eintreffen, lassen die Medienmacher auf Dauer genausowenig kalt wie der Kampfruf „Lügenpresse“. Das alte Selbstvertrauen ist weg. 

Geradezu rührend wirkt es, wenn ein Angehöriger des medialen Mittelbaus, ein Redakteur der Sächsischen Zeitung einem Pegida-Demonstranten die journalistische Unabhängigkeit und seinen kritischen Ansatz erklärt, der bereits zum Rücktritt hoher Landespolitiker geführt hätte. Der Demonstrant hat keine Übung darin, sein Gefühl von Wut, Ohnmacht und Fremdbestimmung vor laufender Kamera in Worte zu fassen und kann nur auf sinistere Drahtzieher verweisen, denen sein Gegenüber gehorchen müsse.

Was er sagen will: Die Skandale, die aufgedeckt zu haben der Redakteur so stolz ist, sind lediglich sekundärer Natur. Würde er die alte und die neue Zivilreligion – den menschengemachten Klimawandel – problematisieren, den Geldflüssen aus arabischen Staaten an religiöse Organisationen und Einrichtungen in Deutschland nachgehen, würde er Merkels Rechtsbrüche in der Asylpolitik dokumentieren – er würde sehr schnell an die Grenzen seiner professionellen Freiheit stoßen.

Ex-Bild-Chef Kai Diekmann gibt sich offensiv wurstig. Na klar mache er sich als Journalist mit den guten Sachen in der Politik gemein: mit dem Kampf gegen Extremismus oder Antisemitismus zum Beispiel. Nur sind das Begriffe, die man je nach politischem Belieben und Machtinteresse einsetzen kann. An der Stelle wäre ein Hinweis auf Diekmanns Mitgliedschaft in der Atlantik-Brücke aufschlußreich gewesen.

Doch der Film will nichts erklären, sondern nur zeigen: Die Politiker, die ratlos die Abkehr einst treuer Wählerschichten konstatieren. Die böse Überraschungen erleben, wenn sie aus den Limousinen steigen. Justizminister Heiko Maas ergreift auf der Mai-Kundgebung 2016 in Zwickau die Flucht vor dem Publikum, das „Hau ab, hau ab!“ skandiert. In Dresden, am Jahrestag der deutschen Einheit, wird das Defilee unter freiem Himmel für die Spitzenpolitiker zum Spießrutenlauf. Das versammelte Publikum schreit ihnen die Verachtung buchstäblich ins Gesicht.

Die Nervosität ist auf beiden Seiten. Das Publikum spürt zunehmend, daß Politik und etablierte Medien überfordert sind und ihm Schaden zufügen, sei es aus ideologischer Verengung, aus Unfähigkeit oder beidem. Der Protest äußert sich im Zuspruch für die AfD. Im Westen hat sich ein spontan und projektbezogen agierendes Wutbürgertum herausgebildet, hinter dem allerdings kein größeres Konzept steht. Im Osten äußert der Unmut sich prinzipieller, vor allem in der Pegida-Bewegung. Dem gläubig-paternalistischen Verhältnis vieler Westdeutscher zum Grundgesetz steht hier die Erfahrung aus der DDR entgegen, daß politische Systeme sich erschöpfen und scheitern können. Allerdings ist aus Pegida keine breite Volksbewegung geworden, dazu war die Repression bereits zu stark.

Die Nervosität liegt, wie gesagt, auch beim politisch-medialen Komplex. Das Gefühl der Überforderung, die nagende Furcht, die alten Erklärungs- und Handlungsmuster könnten falsch, die eigene Zeit abgelaufen sein, die Furcht vor dem Bedeutungsverlust und der sozialen Degradierung ist Politikern und Journalisten nicht fremd. Ihre Mißwirtschaft aber ist schon so weit gediehen, daß eine Korrektur einer Selbstentblößung und Delegitimierung gleichkommen würde. Um so fester schließen sie ihre Reihen und kehren die demokratische Beweislast einfach um: Nicht die Politik und die willfährigen Medien seien gescheitert, sondern ihre Kritiker zu dumm oder unmoralisch, um ihre Komplexität und ihren hehren Charakter zu begreifen. Daraus abgeleitet wird das Recht zur Repression gegen Kritiker und alternative Kräfte, wobei das Instrumentarium vom Einsatz des Verfassungsschutzes bis zur Mobilisierung der Antifa reicht. Für den Alltagsgebrauch stehen sogenannte zivilgesellschaftliche und mediale Mittel zur Verfügung. Der Spiegel zum Beispiel, obwohl quantitativ im Sink- und qualitativ im Sturzflug, erreicht mit Spitzenmeldungen im Internet immer noch Millionen Nutzer. Die Nervosität führt also keineswegs zur Resignation oder zum Rückzug der Eliten.

Die Schilderhebung des habituellen Stiernacken Martin Schulz als scheinbare, auf jeden Fall aber schlimmere Alternative zu Angela Merkel zeigt zum einen, daß der politisch-mediale Komplex unfähig ist zur Selbsterneuerung, er seine Mittel und Möglichkeiten zur Selbstbehauptung aber längst noch nicht ausgeschöpft hat. Gefährlicher selbst als Schulz erscheint ein Politiker wie Heiko Maas, der im Film von Lamby häufig auftaucht. Politiker wie SPD-Generalsekretärin Katarina Barley oder Innenminister Thomas de Maiziere versprühen zwar keinen Esprit, lassen aber wenigstens persönliche Konturen erkennen. Maas dagegen wirkt wie ein Autist, seine Gebärden und Antworten sind automatenhaft. Das politische Amt bildet das Korsett und die Selbstbestätigung für eine unsichere Persönlichkeit. Niemals wird er aus besserer Einsicht von ihm lassen. Ihm ist zuzutrauen, daß sein Kampf gegen die „Haßsprache“ auch der Versuch ist, Genugtuung für das kränkende Erlebnis in Zwickau zu erhalten.

Die Beschwörung der NS-Vergangenheit, der klebrige Moralismus, der als „Lehre“ daraus abgeleitet wird und jeden Versuch einer rationalen politischen Debatte erstickt, oder eine Einrichtung wie der Verfassungsschutz sind deutsche Besonderheiten, die die Atmosphäre zusätzlich vergiften. Doch grundsätzlich unterscheidet sich die Situation in Frankreich, den Niederlanden, Belgien und neuerdings in Schweden nicht von der in Deutschland. Masseneinwanderung, Terror, Islam stellen in ganz Europa das Bestehende in Frage und degradieren die politisch-medialen Akteure zu geschäftigen Nullen.

Der 90minütige Dokumentarfilm „Nervöse Republik – Ein Jahr Deutschland“ von Stephan Lamby kann in der ARD-Mediathek abgerufen werden.

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