© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/17 / 05. Mai 2017

Mißglückter Thesenanschlag
Debatte um Leitkultur: Innenminister Thomas de Maizière greift mit seinem Vorstoß viel zu kurz
Thorsten Hinz

Man sollte hinter dem Vorstoß von Innenminister Thomas de Maizière, der in der Bild am Sonntag seine Thesen zur deutschen Leitkultur vorstellte, nicht zuviel politischen Willen oder akademische Substanz vermuten. Der Zweck und die Botschaft erschöpfen sich im gewählten Massenmedium. Wenige Monate vor den Bundestagswahlen gelangten die Wahlkampfstrategen der Union zu der Überzeugung, daß es nützlich wäre, sich mit starken Worten um die sogenannten kleinen Leute unter ihren Stammwählern zu bemühen, die sich mit dem Gedanken tragen, das Kreuz bei der AfD zu machen.

Gerade die kleinen Leute sind mit den Folgen der wilden Einwanderung am stärksten konfrontiert. Sie haben begriffen, daß 2015 kein Zustrom von Fachkräften eingesetzt hat und weder ein Wirtschaftswunder noch kulturelle Bereicherungen ins Haus stehen. Statt dessen haben Kriminalität, längst ausgerottete Infektionskrankheiten wie die Tuberkulose und vor allem der Terror Einzug gehalten. Sie haben lernen müssen, daß ein Lkw sich als Waffe zum Massenmord eignet und in Regionalzügen der Einsatz von Macheten und Äxten nicht ausgeschlossen ist. Jedes Milchmädchen kann sich ausrechnen, daß die Steuern und Abgaben nicht sinken, sondern steigen werden. Außerdem hat die Abstimmung über die Verfassungsänderung in der Türkei gezeigt, daß die Loyalität der Auslandstürken mehrheitlich dem Sultan am Bosporus und nicht dem deutschen Staat oder dem Grundgesetz gehört.

Vieles, was de Maizière aufzählt, ist selbstverständlich oder banal, so daß man schulterzuckend oder lächelnd darüber hinweglesen kann. So über Goethe, Schiller, Bach oder über das Händeschütteln als deutscher Kulturstandard. Der Satz aber: „Wir sind nicht Burka“ hat es in sich! Er nimmt ein Gefühl auf, das viele Menschen sich entgegen allen Versuchen der Verharmlosung bewahrt haben. Eine Burka, die in deutschen Fußgängerzonen zur Schau gestellt wird, ist kein simples Kleidungsstück, sondern eine politisch-religiöse Botschaft und die Demonstration eines Machtanspruchs.

Einen Debattenertrag wird man dennoch nicht erwarten dürfen. Die Diskussion wird sich rasch im Gezeter von Leitartiklern und Soziologen erschöpfen, die damit auch nur zu erkennen geben, daß sie mit ihrem Latein am Ende sind. Schon wieder heißt es, im Grunde gäbe es gar keine deutsche Kultur, nur regionale Varianten. Diese Dekonstruktion ließe sich noch weiter vorantreiben, bis jeder Mensch zu seiner eigenen Leitkultur erklärt wird. Wobei die professionellen Begriffsverdreher mit sich selbst in Widerspruch geraten, weil sie an der kulturellen Kollektividentität von Einwanderern keinen Zweifel dulden und deren Bewahrung zu einem Menschenrecht und zur Pflicht des deutschen Staates erklären.

In der Neigung, die Dinge bis zur Absurdität zu zergliedern, kann man etwas typisch Deutsches sehen. Eine andere Triebkraft ist die nationale Selbstnegation als die Kehrseite jenes Größenwahns, der vor einigen Jahrzehnten von Staats wegen gepflegt wurde.

Der CDU-Mann Ruprecht Polenz monierte, daß de Maizière nicht zwischen verpflichtendem Recht und unverbindlicher Tradition unterscheide. Polenz übersieht, daß kulturelle und religiöse Traditionen und Rechtsvorstellungen durchaus zusammenhängen, die Scharia ist ein Beispiel dafür. Eine relative kulturelle Homogenität erleichtert die Einigung über die „ungeschriebenen Regeln unseres Zusammenlebens“ (de Maizière), die den rechtlichen Rahmen mit sozialem Leben erfüllen. Die kulturelle Segmentierung führt hingegen zu mehr Reibungen und einem wuchernden Verwaltungsstaat, der permanent neue Teilhabe- und Antidiskriminierungsgesetze produziert.

Jede lebendige Kultur unterliegt Veränderungen. Viele Traditionen und Eigenheiten der europäischen Nachbarn werden von den Deutschen höchstens als anders, aber nicht mehr als fremd empfunden. Was heute unter „deutscher Leitkultur“ zusammengefaßt wird, entspricht zu achtzig oder neunzig Prozent der Leitkultur der anderen Europäer. Der Einfluß der amerikanischen Pop-Kultur stellt noch ein gesondertes Kapitel dar. Die Einwanderer, um die es hier und heute geht, stammen überwiegend aus scheiternden oder bereits gescheiterten Staaten außerhalb Europas. Die Frage stellt sich, ob dieses Scheitern etwas zu tun hat mit Gewohnheiten, Verhaltensweisen und Defiziten, die mit der Ankunft der Fremden nun auch nach Deutschland verpflanzt werden. In diesem Kontext wird der Imperativ einer Leitkultur geradezu zwingend.

Es handelt sich weniger um eine abstrakte Kultur- als um eine konkrete Machtfrage: Es geht um das Vorrecht des Eigenen im eigenen Land, das anderenfalls verkommt. In Regionen, in denen das Vorrecht des Eigenen nicht mehr gilt, ist der Niedergang bereits offensichtlich. Es geht um die konkrete Freiheit der Bürger, über Selbstverständlichkeiten nicht ständig neu verhandeln zu müssen und sich statt dessen der Familie, dem Beruf, den privaten Vorlieben widmen zu können. Das Eigene ist ein Ensemble aus Gewohnheiten, Traditionen, Überlieferungen, Verbindlichkeiten. Auch der Respekt vor der Armlänge Abstand, die ein Mensch gegenüber Unbekannten braucht, um sich nicht von ihnen bedrängt zu fühlen, gehört dazu.

Durch die über Jahrzehnte praktizierte Asylpolitik und schließlich die Grenzöffnung 2015 sind diese Vorrechte, Freiheiten und Selbstverständlichkeiten frontal und vermutlich irreversibel in Frage gestellt worden. Hunderttausenden, Millionen ohne Bezug zu Deutschland wurde und wird gestattet, hier auf Rechte zu pochen, die traditionelle Exklusivrechte von Staatsbürgern sind.

Der Konflikt ist politischer Natur und kann nicht innerhalb einer Kulturdebatte geklärt werden. Deshalb greift der Thesenanschlag Thomas de Maizières viel zu kurz.