© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/17 / 05. Mai 2017

Die Wunde schließen
Stadtgestaltung: Im Lübecker Altstadt-Zentrum soll nach historischen Vorbildern gebaut werden
Peter Möller

Daß der Satz „Die Zeit heilt alle Wunden“ zumindest ansatzweise auch in der Architektur gilt, läßt sich derzeit vielerorts in Deutschland beobachten. Von Dresden über Berlin und Potsdam bis hin zu Frankfurt am Main werden Wunden, die Krieg und Nachkriegszeit den Städten geschlagen haben, durch den Wiederaufbau wichtiger Bauwerke oder ganzer Stadtviertel wenn nicht endgültig geheilt, so doch zumindest gemildert.

Während der Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses oder die teilweise Rekonstruktion der Altstadt in Frankfurt am Main auf großes öffentliches Interesse stoßen, wird seit gut fünf Jahren in Lübeck ein Projekt vorangetrieben, das bislang jenseits der Mauern der alten Hansestadt für wenig Schlagzeilen gesorgt hat. Völlig zu Unrecht, wie ein Blick auf das derzeit größte Lübecker Bauprojekt zeigt, das nun in die entscheidende Phase tritt: der Wiederaufbau des sogenannten Gründungsviertels.

Lübeck, das alte Haupt der Hanse, das sich über die Jahrhunderte sein mittelalterliches Stadtbild nahezu komplett erhalten hatte, war 1942 in der Nacht zu Palmsonntag als erste deutsche Stadt Opfer eines alliierten Flächenbombardements geworden. Dabei wurden große Teile der historisch bedeutenden Altstadt mit ihren Kirchen und Kaufmannshäusern zerstört oder beschädigt. Besonders schwer getroffen wurde das zwischen der Trave und der mächtigen Marienkirche gelegene sogenannte Gründungsviertel, das älteste und bedeutendste Kaufmannsquartier der Stadt. Nach dem Krieg und der Beseitigung der Trümmer entstanden auf dem Gelände neben einem Parkplatz zwei langgezogene Berufsschulbauten im Stil der fünfziger Jahre. Wo vor der Zerstörung auf schmalen Grundstücken dicht an dicht Kaufmannshäuser mit hoch aufragenden Giebeln das Bild geprägt hatten, erstreckten sich jetzt quer zur Straße zwei moderne Zweckbauten. Die städtebauliche und architektonische Haltung des Wiederaufbaus der im Weltkrieg zerstörten Straßen in den fünfziger Jahren habe den Geist des Ortes, den genius loci, fast vollständig negiert, klagte rückblickend der im Januar ausgeschiedene Lübecker Bausenator Franz-Peter Boden.

Doch der Zahn der Zeit und die Erfordernisse der modernden Wärmedämmung bereiteten den ungeliebten Nachkriegsbauten ein vorzeitiges Ende. 2012 begann der Abriß der Gebäude. Damit ergab sich plötzlich für die Lübecker Stadtplaner die Gelegenheit, die historisch gewachsene architektonische Kleinteiligkeit, die immer noch für die zum Weltkulturerbe zählende Altstadt charakteristisch ist, auch an dieser für die Stadtgeschichte so wichtigen Stelle wiederherzustellen; oder wie Boden es formulierte, „ein wenig von dem historischen Glanz“ zurückzuholen.

Das rund 10.000 Quadratmeter große Gebiet, das durch die Fischstraße in zwei Baublöcke geteilt wird, wurde nach dem Abriß der Schulen und umfangreichen archäologischen Grabungen zur Stadtgeschichte wieder in 38 Grundstücksparzellen unterschiedlicher Größe aufgegliedert. Auf ihnen sollen nun bis 2020 unter Einhaltung der historischen Baufluchten vor allem die für Lübeck typischen „giebelständigen Stadthäuser“ entstehen – allerdings nicht als Eins-zu-eins-Rekonstruktionen der zerstörten Vorkriegsgebäude, sondern in zeitgemäßer Architektur, die sich allerdings eng an die historischen Vorbilder anlehnen soll.

Um bei dieser sogenannten „kritischen Rekonstruktion“ dennoch einen gestalterischen Wildwuchs zu vermeiden und von Anfang an zu verhindern, daß das Gründungsviertel zur Spielwiese für extrovertierte Architekten wird, hat der Bausenator eine umfassende Gestaltungssatzung erlassen. Das detaillierte Regelwerk, das unter Rückgriff auf die Lübecker Bautradition unter anderem Vorgaben zur Fassaden- und Dachgestaltung sowie zu den Materialien macht, soll nach dem Willen der Lübecker Stadtplaner helfen, die angestrebte architektonische und städtebauliche Qualität in dem Quartier zu erreichen, in dem am Ende eine „urbane“ Mischung aus bis zu 170 Wohnungen und zahlreichen Gewerbebetrieben entstehen soll.

Trotz der restriktiven Vorgaben beteiligten sich Anfang 2015 an dem grundlegenden und richtungsweisenden Architekturwettbewerb für die Fassadengestaltung von drei Musterfassaden für das Viertel 133 Architekten aus ganz Europa. Bei Bürgern und Investoren sind die Grundstücke im Schatten der Marienkirche äußerst gefragt. Bis zum 17. Mai haben Interessenten noch Zeit, sich für die letzte verbliebene Parzelle zu bewerben. Alle anderen Baugrundstücke sind bereits vergeben.

Doch es regt sich auch Kritik. Während Anhänger der modernen Architektur die starke Fixierung der Planer auf die historische Bebauung kritisieren und über einen architektonischen „Kostümfilm“ spotten, beklagen die Liebhaber der klassischen Architektur das Fehlen von sogenannten Leitbauten. So werden etwa in Potsdam und Dresden ausgewählte zerstörte Bauten bezeichnet, die äußerlich komplett rekonstruiert werden, um als städtebauliche „Klammer“ für die in der Nachbarschaft stehenden modernen Neubauten zu dienen.

Daß Lübeck beim Wiederaufbau des Gründerviertels einen anderen Weg geht, liegt vor allem daran, daß es sich hier in erster Linie um „einfache“ Kaufmannshäuser handelt, die zwar alle für sich genommen ihre architektonische Bedeutung hatten, nach ihrer Zerstörung aber nicht im kollektiven Gedächtnis der Stadt verankert geblieben sind, wie etwa die berühmte „Goldene Waage“ in Frankfurt am Main. Dieses spektakuläre Fachwerkhaus wurde daher beim mittlerweile abgeschlossenen Wiederaufbau der Altstadt als Leitbau komplett rekonstruiert. Gleichwohl gibt es auch im Lübecker Gründungsviertel Gebäude, deren Fassaden denen der Häuser aus der Vorkriegszeit nahezu entsprechen oder ihnen zumindest sehr nahekommen.

In welchem Maße die Stadtreparatur an dieser für die Lübecker Geschichte so sensiblen Stelle tatsächlich gelingt, läßt sich erst in einigen Jahren beurteilen, wenn alle Parzellen des Gründerviertels bebaut sind. Doch schon jetzt wird deutlich, daß die nach dem Krieg nur notdürftig geschlossene städtebauliche Wunde dann weit weniger sichtbar sein wird als bislang.