© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/17 / 05. Mai 2017

Rhinozerisierung schreitet voran
Literaturwissenschaft: Die verblüffende Aktualität der Politparabel „Die Nashörner“ von Eugène Ionesco
Günter Scholdt

Vor genau 60 Jahren publizierte der in Rumänien geborene, dann in Frankreich lebende Eugène Ionesco seine Erzählung „Die Nashörner“. Ihre spätere Dramenfassung zählt – etwas mißverständlich – zu den Klassikern des „Absurden Theaters“. Dabei handelt es sich keineswegs nur um eine Veranschaulichung des Sinnlosen in unserer Alltagswelt. Vielmehr bietet die nur 17seitige Erzählung zudem eine sarkastische wie scharfsinnige Analyse von Massenverhalten und ersetzt darin manche soziologische Studie. Darüber hinaus enthält sie ein verzweifelt-eindrucksvolles wie bitter-ironisches Plädoyer für eine vom Mainstream unabhängige Existenz, die momentan kaum weniger gefährdet ist als 1957.

Was passiert, fragt sich Ionesco, wenn sich eine Gemeinschaft nach und nach in Nashörner verwandelt, in eine dumpf trampelnde Herde, die all das bedroht, was noch humaner Verständigung oder individuellen Regungen zugänglich ist? Die Antwort ist ernüchternd, nicht zuletzt, was mögliche nonkonformistische Widerstandskräfte betrifft. Das erste Auftauchen eines solchen Tiers in einer friedlichen Stadt wird von Augenzeugen zwar sogleich als Gefahr erkannt, von den Behörden jedoch weitgehend ignoriert. Und wo einer gar die Idee eines großen Nashorngeheges ins Spiel bringt, kapituliert man sofort vor der organisierten Lobby der Gutmenschen. 

Denn dagegen „sprach sich aus humanitären Überlegungen der Tierschutzverband aus. Zum anderen besaß jeder unter den Nashörnern einen nahen Verwandten, einen Freund, was aus leicht begreiflichen Gründen die Verwirklichung des Planes so gut wie undurchführbar machte“. Auch als die Dehumanisierungen bereits epidemische Ausmaße annehmen, reagiert man amtlicherseits lediglich mit statistischer Pedanterie, zählt Einhörner und Zweihörner und kommentiert dies im Gelehrten-Wettstreit.

Überhaupt ersetzen sophistische Intellektuellen-Klügeleien von Anfang an notwendige Abwehrmaßnahmen. Die „Eliten“ haben nämlich ihre eigene Art Wahrnehmung, jenseits von vermeintlichen Verschwörungstheorien des gemeinen, in Wirklichkeit unverbildeten Volkes, dem sie „überlegen lächelnd“ begegnen. Die karrierebewußten künftigen Stützen der Gesellschaft stellen schließlich politische Fragen nur auf „korrekte Art“. Analogien zur heutigen Schwatz- und Talkshow-Gesellschaft drängen sich auf.

So schreitet die Rhinozerisierung unaufhaltsam voran. Aus dem Radio erschallt Gebrüll. Denn natürlich haben die Nashörner im Zuge ihrer Machtübernahme sofort den Sender besetzt. Schon zuvor hatte sich die Presse als wenig resistent erwiesen: Statt auf die Gefahr der freilaufenden Kolosse hinzuweisen, die beispielsweise eine zufällig passierende Katze zu blutigem Brei zerstampften, erfolgt nur eine lapidare Meldung unter der eher bemäntelnden Rubrik „Katzenunfälle“. Das Tier sei von einem „Dickhäuter“ niedergetreten worden. Weitere Details: Fehlanzeige.

Gefährdete kollaborieren schließlich mit der Gefahr  

Nun, wir kennen solche mediale Selbstzensur und entsprechende verbale Eiertänze hinsichtlich bestimmter Tätergruppen zur Genüge. Dabei wollen wir Ionescos Sozialdiagnose jedoch keinesfalls auf einen einzigen Themensektor verengen. Der Run auf Mehrheitspositionen befördert gleichermaßen zahlreiche andere Lieblingsprojekte und Sozialexperimente unseres Establishments. 

Wie legitimiert sich die massenhafte Umorientierung hin auf den zunehmend bedrohlichen Rhinozeros-Staat? „Man muß auf der Höhe seiner Zeit bleiben!“ lauten die letzten menschlichen Worte des zunächst schärfsten Leugners jeglicher Nashörner in der Stadt. Eine ewig junge Devise! Weitere Anpassung geht von den Gefährdeten selbst aus. Ihr Standpunkt wird von innen heraus moralisch unterminiert. Als Einfallstor dient die Forderung nach Gleichberechtigung. Bald wird daraus Dominanz der ehemaligen Minderheit. Denn mit der zahlenmäßigen Überlegenheit der neuen Spezies fällt auch ihre Harmlosigkeitsmaske. 

Wirkliche Mitmenschlichkeit wird nun als nostalgische Marotte ad acta gelegt. Nun gilt pure physische Kraft als sexy. Auch Daisy verfällt ihr, die bislang einzig verbliebene Verbündete des Ich-Erzählers, mit der er die Menschheit regenerieren wollte. Doch sie will ihm keine Kinder gebären und steht bereits im Banne der seit Jahrhunderten wohl effektivsten Schicksalsmacht – des Erfolgs. Fragt sie doch, ob nicht eher die Mensch-Gebliebenen rettungsbedürftig oder anomal seien, und schwärmt bald von der „herrlichen Kraft“ jener neuen Wesen. Auch Frau Ochs, deren Mann – nomen est omen – als einer der ersten zum Nashorn wurde, folgt offenbar eher biologischen als rationalen Beweggründen.

Zurück bleibt am Ende ein Verlassener, einsam wie Robinson in einem Ozean von Rhinozeros-Lebensformen. Das Schlußtableau der Parabel bietet denn auch eine erschütternde Seelenstudie: Der Ich-Erzähler schließt sich zu Hause ein, verstopft sich die Ohren, wird von Nashorn-Angstträumen gequält. Gibt es noch eine Chance, deren Mutation rückgängig zu machen? Dazu müßte er wenigstens mit ihnen sprechen können. Doch er kennt ihre Sprache nicht, wo er doch fast schon seine eigene vergessen hat.

Eines Tages sieht er in den Spiegel und findet sich häßlich. Massive Selbstzweifel entmutigen ihn als Folge sozialer Ausgrenzung. „Der Mensch, der allein ist, verliert die Wahrheit“, formulierte Hermann Broch bereits eine Generation zuvor im Roman „Die Verzauberung“. Bei Ionesco fragt sich der „Held“, ob nicht vielleicht doch die andern „recht hätten“. Als nächstes „entdeckt“ er, daß auch Nashorngebrüll „einen gewissen Reiz“ hat. Doch so sehr er sich anstrengt, ihm gelingt nur „Geheul“. Trotz täglicher Untersuchung zeigt sein Körper keine Anlagen zur Wandlung, was ihn noch mehr bedrückt. Und der Text schließt mit einem inneren Monolog tiefster Resignation:

„Ein Untier war ich! Nie würde ich, o weh, zum Nashorn werden: ich konnte mich nicht verwandeln. Ich wagte nicht mehr, mich anzuschauen. Ich schämte mich. Und dennoch, ich konnte nicht, ich konnte es einfach nicht.“ 

Ist das die Kapitulation? Zumindest vom Autor gilt dies nicht. Er hat sich gewehrt mit diesem fulminanten Text, der die Mechanismen offenlegt, unter denen damals wie heute scheinbar liebenswürdig-harmlose, ach so gescheite Mitbürger verhängnisvolle Verwandlungen vollziehen, wenn der Zeitgeist galoppiert. Ionesco hat den fatalen Siegeszug nachgezeichnet, von der Leugnung oder Bagatellisierung eines Problems über die Anpassung bis zur Verfolgung der Außenseiter. Er zeigt Anfechtungen des letzten Einzelmenschen, der unter dem Liebesentzug seiner Umwelt ebenso leidet wie unter leiblicher Bedrohung, so daß er am Ende, wenn er es nur könnte, buchstäblich aus der menschlichen Haut fahren möchte. 

Unfähigkeit zur Desertion ins Lager der Bestien

Als Schriftsteller hat Ionesco somit alles getan, was wahre Autorschaft jenseits von Tendenzliteratur vermag. Allenfalls fragt sich, ob uns seine Schonungslosigkeit nicht der Verzweiflung ausliefert. Ein Blick auf den Schluß gibt Aufschluß, in dem der Erzähler seine Bereitschaft verrät, eigenen Idealen untreu zu werden, um dann fortzufahren: „Ich konnte es einfach nicht.“ Diese Unfähigkeit zur Desertion ins Lager der Bestien ist nun allerdings die Kernaussage. Sie wiegt schwerer als alle Selbstzweifel und Herdeninstinkte. Denn die dokumentieren lediglich kurzfristige Zustände innerer Erschütterung, aber keine Grundsatzentscheidung.

Echte Nonkonformisten, so lautet die äußerst bescheidene, aber immerhin verbliebene Widerstandsbotschaft des Textes, gibt es nach wie vor. Sie schwächeln gelegentlich. Aber sie werden durch Gewissen, Ekel, Trotz, Snobismus oder was auch sonst vom Lager der Massenmenschen abgehalten. Sie sind klein an Zahl, aber so unausrottbar wie für andere Neigungen zur Herde. Das birgt Hoffnung.






Prof. Dr. Günter Scholdt ist Germanist und Historiker. Der Text entstammt dem Band „Literarische Musterung. Warum wir Kohlhaas, Don Quijote und andere Klassiker neu lesen müssen“ (Verlag Antaios, Schnellroda 2017)