© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/17 / 05. Mai 2017

Die Dunkelmänner sind auf dem Vormarsch
Egon Flaig warnt vor einer expansiven Gegenaufklärung und ihren politischen Folgen
Wolfgang Müller

Die europäische Kultur der Aufklärung basiert auf der anspruchsvollen Überzeugung, der Mensch sei zu vernunftgeleitetem Handeln fähig. Abgesehen von wenigen neutralen Reservaten, die das unentwegte Kriegs- und Bürgerkriegsgemetzel nicht tangierte, scheint allerdings dieses aufklärerische Welt- und Menschenbild zwischen 1700 und 1945 die Probe auf seine Realitätstauglichkeit nicht bestanden zu haben. 

Es blieb der westdeutschen Linken vorbehalten, vor fünfzig Jahren den Beweis des Gegenteils anzutreten. Zwecks Rehabilitation des „Projekts“ Aufklärung, so lautete die zentrale 68er-Botschaft, müsse man das Ganze nur radikalisieren und die „Emanzipation“ schonungslos vorantreiben, um die unterdrückten Massen von den Bleigewichten des Irrationalismus wie Familie, Tradition, Nation, Konfession zu befreien. Bis die autonomen Subjekte schließlich das fortschrittlichste Niveau ihrer sozialen Interaktionen erreichen. Auf dieser Stufe angelangt, würden sie allein den im herrschaftsfreien Diskurs sich durchsetzenden Vernunftgründen gehorchen.

Obsessive Feindseligkeit gegen alles Hellenische

Auch diese soziale Utopie war zwar „als Poesie gut“ (Friedrich Wilhelm III.), ließ sich aber bekanntlich nicht verwirklichen. Nach den Ursachen dafür zu suchen ist müßig, es führt zum anthropologisch Üblichen. Lehrreicher wäre es, in Erfahrung zu bringen, warum der seit Kant und Hegel ehrgeizigste deutsche Versuch, soziale Praxis an vernünftiger Theorie auszurichten, derart bruchlos in die Herrschaft kollektiver Unvernunft mündete. Denn anders ist das von der postnationalen Generation Habermas getragene, extrem irrationale Gesellschaftsexperiment kaum zu bezeichnen, das den nach 1989 forcierten Import archaisch-autoritär determinierter, an den Islam, die primitivste monotheistische Religion, geketteter Menschenmassen als wünschenswerte „Bereicherung“ der säkularen, aufgeklärten, demokratisch organisierten Nationalkulturen Europas propagierte.

Diese wundersame Transformation der Aufklärungsideologie in die Multikulti-Gegenaufklärung entspringt für den Althistoriker Egon Flaig, dem die Gegenwart „3.000 Jahre weiträumiger“ (Ernst Robert Curtius) ist als den meisten Zeitgenossen, keineswegs aus dem Nichts wie das Kaninchen aus dem Zylinder des Zauberers. Vielmehr ordnet er die aktuellen Varianten der „Dialektik der Aufklärung“ einer Kontinuität konträrer und doch verwandter Weltsichten zu, deren Anfänge bis ins Urchristentum zurückzuverfolgen seien: Gnosis und Apokalypse („Apokalyptische Politik und gnostischer Rückzug. Zu den Auswirkungen auf die historischen Kulturwissenschaften“ in Archiv für Kulturgeschichte, 2/2016). 

Die Gnostiker, eine in ihrer geistesgeschichtlichen Fernwirkung schwerlich zu überschätzende frühchristliche Sekte, predigen die Heillosigkeit der Welt. Heil, Erlösung, Glück gebe es für das Pneuma der Seele nur, wenn es diese Welt verlasse und in seine ferne, unbekannte Heimat zurückkehre. Von der verdorbenen, ihrem Schöpfer gründlich mißlungenen Welt ist auch der Apokalyptiker überzeugt. Doch anders als der weltflüchtige Gnostiker rechnet er mit einer Revision durch einen gewalttätigen Einbruch göttlicher Macht, die das durchaus irdische Heil durch radikale Umgestaltung des Bestehenden schafft. 

Übertragen auf rechte Denkmuster des 20. Jahrhunderts repräsentiert etwa Ludwig Klages, der sich auf eine generelle Verdammung der unheilbaren modernen Zivilisation festgelegt hatte, den Typus des Gnostikers, während der Apokalyptiker Stefan George auf die Zusammenballung kosmischer Kräfte im großen Individuum, im Dichter oder Täter als Heilbringer, hoffte, der einer „verameisten Welt“ (Friedrich Gundolf) die totale Umwälzung bringen sollte.

Egon Flaig legt in seiner dem Andenken an den jüdischen Religionsphilosophen Jacob Taubes (1923–1987) gewidmeten Studie dar, daß Gnostik und Apokalyptik im 20. Jahrhundert keineswegs ein Proprium rechtsintellektueller Sinnstifter waren. Denn an der „Zerstörung der Vernunft“, die der Marxist Georg Lukács noch einer exklusiv deutschen, von Martin Luther zu Adolf Hitler führenden Unheilsgeschichte anlastete, habe sich die Linke, nach 1945 allen voran die Protagonisten der Frankfurter Schule, kräftig beteiligt. 

Auch in den Schriften von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno sowie in der Publikationsflut ihrer Nachtreter lassen sich daher fünf Merkmale ausmachen, die das Denken fast aller apokalyptisch oder gnostisch gestimmten Intellektuellen seit den 1920ern kennzeichnen: Radikale Vernunftkritik nebst Aufwertung nicht-rationaler Modalitäten von Erfahrung, regelmäßig einmündend in „offene Vernunftfeindschaft“. Ferner die „offene Absage an die Aufklärung“, wobei Horkheimer und Adorno nicht zögerten, selbst die Aufklärung als „Vorstufe des Faschismus zu ‘entlarven’“. Drittens findet sich die ostentative Ablehnung des Gedankens, daß sich humane Zukunft freiheitlich durch menschengemachte Gesetze gestalten lasse. Damit verbinde sich viertens die Aversion gegen den republikanischen Freiheitsbegriff. Demzufolge realisiert sich Freiheit nur durch Partizipation von Menschen gleichen Rechts an kollektiven Entscheidungen, und nicht in einem „anarchischen Zustand“. 

Für letzteren wirbt neuerdings die „Muslim-Ministerin“ Aydan Özoguz (SPD, JF 14/17) mit ihrem Gerede vom „täglichen Aushandeln“ der nach dem Modell des orientalischen Basars entworfenen Spielregeln des bundesdeutschen Vielvölkerstaats. Flaig dürfte dies als konsequente Politik betrachten, die aus der linken wie rechten Apokalyptikern gemeinsamen Überzeugung entspringt, daß republikanische Institutionen schädlich seien „und daß nur in einem rechtsfreien Zustand von Andersheit“ die Rechten ihre Ordnung, die Linken ihre „Befreiung“ finden.

Das fünfte Merkmal schließlich, bislang von Ideenhistorikern kaum beachtet, geschweige denn erforscht, sei die oft gerade bei linken Apokalyptikern anzutreffende obsessive Feindseligkeit gegen alles Hellenische in der europäischen Kultur. 

„Gravierender Verlust an kantischer Rationalität“

Bei jüdischen Denkern wie Gershom Scholem, Franz Rosenzweig und Emmanuel Levinas nehme der Antihellenismus Ausmaße an, deren „intellektuelle Wucht dem Antisemitismus um nichts nachsteht“. Die Feindschaft richte sich hier direkt gegen den abendländischen „Logozentrismus“, der seit langem an angelsächsischen Hochschulen als Herrschaftsdenken „alter weißer Männer“ gilt. Der wachsende Widerstand gegen logisch argumentierende Vernunft, gegen Mathematik und Wissenschaft überhaupt, laufe auf eine radikale Entwertung spezifischer Errungenschaften der von der griechischen Antike geformten europäischen Kultur hinaus. 

Diesen „gravierenden Verlust an kantischer Rationalität“ macht Flaig nicht nur für den Vormarsch des neuen Dunkelmännerwesens der „Politischen Korrektheit“ und die Expansion pseudowissenschaftlicher Lehren wie der Gendertheorie an allen westeuropäischen und nordamerikanischen Universitäten verantwortlich. Die Aufladung theoretischen Denkens mit religiösen, messianischen Inhalten und Vorstellungen richte auch „nicht geringfügige Verwüstungen im politischen Raum“ an. Der Schlaf der Vernunft gebiert zwangsläufig Ungeheuer. Die Schlußfolgerung zu ziehen, dazu rechne an erster Stelle die Zerstörung Europas durch Masseneinwanderung, überläßt Flaig vernünftig urteilenden Lesern.