© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/17 / 12. Mai 2017

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Geschwätz von gestern
Paul Rosen

Es war eine kleine, aber schmerzhafte Niederlage für CDU-Königin Angela Merkel auf dem Bundesparteitag 2016 in Essen. Eine Garde von jungen Parteifreunden – darunter Finanzstaatssekretär Jens Spahn und der Vorsitzende der Jungen Union, Paul Ziemiak – hatte durchgesetzt, den Kompromiß mit der SPD zur doppelten Staatsbürgerschaft aufzukündigen. Merkel schien angeschlagen, und das Ausländerthema Chancen zu haben, wieder den Wahlkampf zu bestimmen. Die längst vergessene Ära des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch, der 1999 mit einer Aktion gegen die von Rot-Grün geplante doppelte Staatsangehörigkeit die Landtagswahl in Hessen gewann, schien wieder Konturen anzunehmen. Doch die Kanzlerin blieb stur, ließ schon kurz nach dem Parteitag wissen, daß sie von dem Beschluß nichts halte und ihn nicht umzusetzen gedenke.

Mit Beschlüssen auf Parteitagen ist das so eine Sache. Lang ist es her, daß sie richtungsweisende Bedeutung hatten, etwa das „Godesberger Programm“ der Sozialdemokraten von 1957. Merkel hatte einmal der CDU ein strikt marktwirtschaftliches Programm (Parteitag Leipzig 2003) verordnet – statt von der Höhe des Lohns abhängiger Kassenbeiträge sollte es eine Kopfpauschale geben. Schon wenige Jahre später war das Programm vergessen und der vielbeschworene „Geist von Leipzig“ wieder in der Flasche. Mit dem Essener Beschluß zur Staatsbürgerschaft verhielt es sich zunächst ähnlich. Es passierte fast sechs Monate lang – nichts. 

Aber an anderen Stellen passierte einiges. So stimmte eine Mehrheit der hier lebenden Türken (viele davon mit deutschem Paß) beim Referendum für den nach noch mehr Machtfülle strebenden Präsidenten Erdogan. Einen besseren Beleg, daß die doppelte Staatsbürgerschaft keinen Beitrag zur Integration leistet, gibt es eigentlich nicht. Auch im linksgrünen Lager wurden ganz leise Zweifel am Sinn der Mehrstaatigkeit laut. Und selbst die langsam wieder aus ihrem todesähnlichen Schlaf erwachende FDP, in Staatsbürgerschaftsfragen traditionell eher locker, will eine Begrenzung der doppelten Staatsangehörigkeit. 

Nur Merkel bewegte sich nicht. Sie ließ sogar in einem Interview mit dem Kölner Stadt-Anzeiger, mit dem sie Anfang Mai Signale für den Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen senden wollte, wissen: „Eine Wahlkampfkampagne wie 1999 wird der Doppelpaß nicht werden. Das ist ja auch klar.“ Klar war hier schnell, daß es sich die Kanzlerin kurz vor dem Wahltermin nicht erlauben konnte, ihrem nordrhein-westfälischen Spitzenkandidaten Armin Laschet, der als Freund jeglicher Zuwanderung gilt, in die Parade zu fahren – mochte der „Freiheitlich-konservative Aufbruch“ in der Union auch noch so oft die Umsetzung des Parteitagsbeschlusses verlangen.

Aber in der Politik gilt abgewandelt ein Fußballwort: Nach der Wahl ist vor der Wahl – und nachdem die CDU auf einmal vernehmbar rechte Töne anschlägt („Wir sind nicht Burka“ – Innenminister Thomas de Maizière) und von Leitkultur schwärmt, sind Aussagen im Wahlprogramm zur Einschränkung des Doppelpasses denk- und erwartbar.