© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/17 / 12. Mai 2017

Tief im Westen regiert das Mittelmaß
Vor der „kleinen Bundestagswahl“ in Nord­rhein-Westfalen: Wirtschaftswachstum, Kriminalitätsbelastung, Verkehrssteuerung – das Land brilliert in nichts
Christian Schreiber

Die Wahlwerbung war so einfach wie einleuchtend. „Mehr Kraft für unser Land“, plakatierten die Sozialdemokraten vor fünf Jahren, als sie wie heute mit der Ministerpräsidentin mit Vornamen Hannelore ins Rennen ging. Seitdem hat der Nachname für Hohn und Spott gesorgt. „Kraftlos an Rhein und Ruhr“, schrieb der Focus schon vor rund zwei Jahren, der Spiegel nannte die Regierungsarbeit „kraftlos“, und die lokalen Medien kamen nicht um den Kalauer umhin, „daß Hannelore die Kraft ausgeht“.

Zieht man eine Bilanz abseits des Wahlkampfgeplänkels, dann sieht diese in der Tat trist aus. Ökonomen sehen einen Rückstand bei fast allen Kennzahlen. Die Wirtschaft stagnierte 2015 bei null Prozent, Nordrhein-Westfalen war bundesweit Schlußlicht. Auch bei Investitionen in Sachkapital und Arbeitskräfte fällt das Land deutlich hinter andere Bundesländer zurück. Alles in allem ergebe sich „ein wenig hoffnungsvolles Bild für Nordrhein-Westfalen“, schreibt das Essener Forschungsinstitut RWI.

Führend im Anhäufen von Schulden

„Das bevölkerungsreichste Bundesland sorgt mit Defiziten und zahlreichen Problemen für Schlagzeilen. Ein großer Befreiungsschlag ist im Wahlkampf für die Regierungschefin nicht zu erwarten“, deutete Die Welt schon vor knapp einem Jahr die Lage. Dafür seien der finanzielle Spardruck zu groß und der Einfluß der Landespolitik zu gering geworden. Mit 670 Milliarden Euro erbringt das Land zwar eine vergleichsweise hohe Wirtschaftskraft. Das Bruttoinlandsprodukt legte 2016 an Rhein und Ruhr preisbereinigt um 1,8 Prozent zu, aber liegt damit knapp unter dem Bundesschnitt von plus 1,9 Prozent.

Vor zwei Jahren kam das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) zu einem ähnlich mittelmäßigen Zeugnis. Demnach wuchs in NRW das reale Bruttoinlandsprodukt seit 1991 um lediglich 22 Prozent, verglichen mit 32 Prozent in Deutschland insgesamt. „Die sieben Jahre rot-grüner Regierung unter Kraft haben dem Land keine Verbesserung beschert“, bilanziert der Focus. Kritiker bemängeln, daß auch das geringe Wirtschaftswachstum nur durch neue Schulden erkauft worden sei. NRW hat mit rund 180 Milliarden Euro so viele Schulden aufgehäuft wie Niedersachsen, Baden-Württemberg, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern zusammen (Stand 31. Dezember 2016). Mit weitem Abstand führt das Bundesland die unrühmliche Liste an. Im laufenden Jahr sollen weitere 1,6 Milliarden geliehen werden. Dies ist quasi ein Antitrend im Vergleich zu anderen Bundesländern, die derzeit ohne Neuschulden auskommen.

Die Bedeutung der Grundstoffindustrie ist im Ruhrpottland überdurchschnittlich hoch – deren Anteil beträgt etwa 30 Prozent, im Bundesdurchschnitt, NRW herausgerechnet, 18 Prozent. Doch Betriebe in diesem Sektor – Stahlindustrie, Energieversorger, Mineralölverarbeitung, Chemiekomplexe, Papierproduktion, Zementwerke – stehen stark unter Druck. Die traditionellen Industriesparten erzielen kein Mengenwachstum, sondern können sich glücklich schätzen, wenn sie ihre Produktion stabil halten. Zudem ist die Automobilindustrie, welche die deutsche Konjunktur in den vergangenen Jahren stark prägte, im Land aus historischen Gründen nur unterdurchschnittlich vertreten.

Die „Energiewende“, also die politisch gewollte Abkehr von der Kernenergie, die in der Bundesrepublik zahlreiche, teilweise auch stark subventionierte, neue Wirtschaftszweige geschaffen hat, ging weitgehend spurlos am größten Bundesland vorbei. Die Armutsgefährdungsquote ist in der Regierungszeit von Hannelore Kraft ebenso gewachsen wie die Kinderarmut, die in Nordrhein-Westfalen von 17 Prozent im Jahr 2011 auf 18,6 Prozent im Jahr 2015 stieg, wie die Bertelsmann-Stiftung im vergangenen Jahr feststellte. „Das ist jene Bertelsmann-Stiftung, die Partner in Hannelore Krafts Projekt ‘Kein Kind zurücklassen’ ist“, schrieb das Internetportal der Tagesschau bissig. Kraft konterte trotzig: „Über den Erfolg kann man noch nicht allzuviel sagen. Das Projekt sei immer langfristig angelegt gewesen.“ Und so lauten die Schlagzeilen in den Tagen vor der Landtagswahl auch: „Mangelwirtschaft, Mittelmaß, Stillstand“.

Und dies gilt nicht nur für die Wirtschaft. Die meisten medialen Auftritte hatte Ministerpräsidentin Kraft, als sie nach der Neujahrsnacht 2015/16 im öffentlichen Fokus stand. Daß Hunderte von Migranten über einen Zeitraum von Stunden Frauen bedrängen und belästigen konnten, ohne daß die Ordnungshüter Zugriff gehabt hätten, hat viele Bürger in ihrem Grundvertrauen gegenüber dem Staat erschüttert. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Arbeit der rot-grünen Regierung von Nordrhein-Westfalen unter Kraft daher auch für Wahlkampfzeiten ungewöhnlich scharf kritisiert: Die Bilanz sei „überaus enttäuschend“ und „keine Empfehlung für die Zukunft“, sagte Merkel dem Kölner Stadt-Anzeiger. Die Kanzlerin warf Landesinnenminister Ralf Jäger (SPD) „schwere Versäumnisse“ in der Inneren Sicherheit vor und verwies unter anderem auf eben jene Silvesterereignisse und die Aufarbeitung der damaligen Gewaltexzesse.

Aber auch in Wohnungen wird in keinem anderen Bundesland häufiger eingebrochen als in Nordrhein-Westfalen. Nur rund 16 Prozent aller Einbruchsfälle konnten im vergangenen Jahr aufgeklärt werden. Kraft, die während des Wahlkampfs weitgehend müde wirkte, konterte die 52.578 Einbrüche des Jahres 2016 mit anderen Zahlen. Die Statistiken würden teilweise ein anderes Bild wiedergeben. Die Jugendkriminalität befinde sich auf dem niedrigsten Stand seit 45 Jahren. Die schweren Straftaten gegen Leib und Leben seien seit 2010 zurückgegangen. „Aber ich erlebe immer wieder im Dialog mit Bürgern, daß von Angst-Räumen die Rede ist. Das Thema darf man nicht wegwischen. Wir werden hier weitere Maßnahmen ergreifen: mehr Videobeobachtung, wo es notwendig ist und die Beleuchtung von Plätzen verbessern. Wir können aber nicht an jede Ecke einen Polizisten stellen.“ Der Wille, den Bürgern Sicherheit und Schutz zu geben, hört sich anders an.

Die Stimmung innerhalb der Polizei ist denn auch ziemlich schlecht. Zu den zwei Millionen Überstunden aus Altbeständen, die sich in den Vorjahren angehäuft hätten, sind im Jahr 2016 weitere drei Millionen Überstunden hinzugekommen, teilte der NRW-Landesbezirk der Gewerkschaft der Polizei (GdP) dem WDR mit. „Wir haben in den letzten Jahren immer mehr Aufgaben dazubekommen“, sagt auch Arnold Plickert, NRW-Landeschef der GdP. Man habe seit dem Jahr 2000 16.000 Stellen bei der Bundespolizei abgebaut. „Das führt dazu, daß meine Kollegen nicht mehr aus den Büros kommen, weil die Vorgänge sich stapeln.“ Hier hat die rot-grüne Regierung unter Hannelore Kraft mittlerweile versucht zu reagieren und die Zahl der Polizeianwärter angehoben. Zudem sollen in NRW künftig jährlich 2.000 neue Polizisten eingestellt werden – das sind fünf Prozent des aktuellen Personalbestands von 40.000. Die GdP hält diese Maßnahmen dagegen für nicht ausreichend. Demnach könne die Zahl der geplanten Neueinstellungen nur Abbrecherzahlen, Pensionierungen und sonstige Beendigungen der Dienstverhältnisse ausgleichen.

Auch in der Bildungspolitik sieht es im bevölkerungsreichsten Land der Republik nicht besser aus. Im Bildungsmonitor 2016 landete Nordrhein-Westfalen lediglich auf Platz 14. Der Anteil der Schüler „mit zu geringen Kompetenzen“ sei vergleichsweise hoch, berufsvorbereitende Maßnahmen verliefen oft erfolglos. Außerdem beklagt die Studie einen Lehrermangel: Auf eine Lehrkraft kämen „überdurchschnittlich viele“ Schüler und Studenten. Die Qualität der Berufsfachschulen, Fachoberschulen und Fachschulen im Lande läßt nach einem Bericht des WDR zu wünschen übrig. Der Anteil erfolgreicher Absolventen unter allen Abgängern dieser Schulen habe im Jahr 2014 nur 64,3 Prozent betragen. Bei einem Bundesdurchschnitt von fast 80 Prozent bildet NRW hier ebenfalls das Schlußlicht. Und obwohl es in NRW überdurchschnittlich viele Ausbildungsbetriebe gebe, hätten im Jahr 2015 nur für 62 Prozent der Bevölkerung im entsprechenden Alter Ausbildungsstellen zur Verfügung gestanden.

In einer Statistik liegt Nordrhein-Westfalen allerdings vorne. Diese ist freilich wenig schmeichelhaft, handelt es sich dabei doch um den Titel Stauland Nummer 1. Im vergangenen Jahr kamen nach Angaben des ADAC 172.000 Staukilometer zusammen. „NRW ist das logistische Herz Europas“, erläutert Thomas Puls, Infrastruktur-Experte des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). „Der Welthandel läuft zu einem wesentlichen Teil über drei Häfen: Rotterdam, Antwerpen und Hamburg. Und die Zufahrtswege dahin überschneiden sich in Nordrhein-Westfalen. Deshalb haben wir hier den gewaltigen Lastwagenverkehr.“ Aber anstatt diesen Standortvorteil für die Wirtschaft zu nutzen, bilde ein gigantischer Investitionsrückstand ein riesengroßes Hemmnis, erklärt er weiter. Brücken und Straßen sind marode, bestes Beispiel die überregional bekannt gewordene Teilsperrung der Rheinbrücke bei Leverkusen, wo die Überführung der A1 und damit des nördlichen Kölner Autobahnrings über den Rhein erfolgt. Von einem „absoluten Staatsversagen“ spricht Rüdiger Ostrowski, Hauptgeschäftsführer des Verbands Spedition und Logistik NRW. Seit 15 Jahren seien die Probleme bekannt und trotzdem sei nichts passiert. „Das Geld wurde, zugespitzt gesprochen, lieber in den Radwegausbau gesteckt als in die Brückensanierung“, so Ostrowski. Die Rheinische Post, eines der einflußreichsten Lokalblätter des Landes, kommt daher unmittelbar vor den Landtagswahlen zu dem Schluß, daß Nordrhein-Westfalen die Bezeichnung „kranker Mann der Republik“ zu Recht trage.