© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/17 / 12. Mai 2017

Zu Tausenden verhungerten die ostpreußischen Kinder
Der Historiker Christopher Spatz widmet sich dem qualvollen Schicksal der Kinder und Jugendlichen unter sowjetischer Herrschaft nach 1945
Hans-Joachim von Leesen

Fragt man in unseren Tagen Abiturienten, was sie von der Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den früheren deutschen Ostgebieten wissen und was ihnen bekannt ist von der Annektierung fast eines Drittels des deutschen Staatsgebietes durch die Sieger – alles Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verstöße gegen Menschenrechte –, trifft man bei einem großen Teil auf Unkenntnis. Die weitgehende Verbannung dieses Themas aus den Lehrplänen der Schulen ist auch der in der Bundesrepublik herrschenden Grundthese geschuldet, daß eine Opferperspektive für das „Volk der Schuldigen“ am Ausbruch und Massenverbrechen im Zweiten Weltkrieg nicht statthaft sei. Obwohl die meisten Politiker und Meinungsführer eine Kollektivschuldthese meist leugnen, ist diese eben immer noch das bestimmende Moment der deutschen Politik. 

Das Buch „Nur der Himmel blieb derselbe – Ostpreußens Hungerkinder erzählen vom Überleben“ von Christopher Spatz scheint dieser Maxime nicht zu gehorchen. Der junge Historiker hat sich mit der Geschichte ostpreußischer Kinder beschäftigt, die auf der Flucht verlorengingen und sich im Chaos von Krieg und Nachkriegszeit selbst überlassen blieben, nachdem die Eltern bei feindlichen Luftangriffen, durch Kampfhandlungen und Übergriffe der Roten Armee oder durch Seuchen und Hunger ums Leben kamen. 

Hunger und Sklavenarbeit bestimmten Zeit nach 1945

Schon in seiner Dissertation befaßte sich Spatz mit den „Wolfskindern“. In seinem neuen Buch läßt er Überlebende in mehr als fünfzig biographischen Interviews zu Worte kommen und ergänzt manches aus zur Verfügung stehenden Moskauer Akten, so daß ein wirklichkeitsgetreues Abbild jenes grauenhaften Zeitabschnitts entsteht. Die Zeitzeugen entstammen den Geburtsjahrgängen 1928 bis 1943 und erlebten die Nachkriegszeit im nach 1945 unter sowjetischer Verwaltung stehenden Königsberger Gebiet. Erst Ende der vierziger Jahre schoben die Sowjets die Kinder in die DDR ab, und von dort kamen auf dem Wege der Familienzusammenführung viele in die Bundesrepublik. Manche, die sich nach Litauen gerettet hatten und dort von Familien aufgenommen waren, blieben dort. Der Autor rechnet damit, daß Ende 1947 in Ostpreußen etwa 5.000 Waisen überlebt hatten sowie 25.000 bis 30.000 in Litauen.

Was die Kinder in den ersten Nachkriegsjahren erlebt hatten, ist schwer zu vermitteln. Viel zu spät begann die Räumung des von der Roten Armee bedrohten Ostpreußens. Was der deutschen Zivilbevölkerung drohte, wurde deutlich, nachdem einige von den Sowjets besetzte Dörfer zunächst wieder freigekämpft worden waren. In Nemmersdorf präsentierte man die grauenhaft ermordeten Zivilisten sogar einer Ärztekommission aus neutralen Ländern. 

Zwar bemühte sich die deutsche Wehrmacht – hier sei vor allem an die Kriegs- und Handelsmarine erinnert – so viele Zivilisten wie irgendmöglich über die Ostsee in Sicherheit zu bringen, doch reichte die Zeit nicht mehr aus, alle zu retten. Manche meinten auch, so schlimm werde es unter sowjetischer Besatzung schon nicht kommen, doch es wurde tatsächlich noch viel schlimmer.

Vor allem in den Dörfern lebende Frauen und Kinder fielen der ersten Sturmwelle der Roten Armee in die Hand. Kaum ein Mädchen, kaum eine Frau entging wiederholten Vergewaltigungen, häufig in Gegenwart ihrer Kinder. Wehrten sie sich, wurden sie oft kurzerhand erschossen. Ältere Jugendliche wurden pauschal mit der Behauptung erschossen, sie hätten der deutschen Partisanenorganisation „Werwolf“ angehört. Etwa 40.000 Ostpreußen wurden aus dem nördlichen Teil des Landes in die UdSSR verschleppt, während nach der Potsdamer Konferenz im Juli 1945 der südliche Teil Polen zugeschlagen wurde. Die zurückgebliebenen Deutschen wurden von den Sowjets zur Sklavenarbeit herangezogen, selbst Kinder mußten die überall im Lande noch liegenden Toten und Gefallenen begraben; sie schleppten Eisenbahnschienen, die abgebaut und in die UdSSR gebracht wurden, sie zogen Pflüge über die Felder.

Ende 1945 erschienen die ersten 200.000 sowjetischen Neuansiedler in Ostpreußen. Sie schikanierten die noch verbliebenen Deutschen und raubten ihnen meist das wenige noch vorhandene Eigentum. Ruhr, Diphtherie und Typhus brachen aus, Alte und Junge starben. Nach vorsichtigen Schätzungen verhungerten unter sowjetischer Herrschaft im Königsberger Gebiet nach dem Krieg über 100.000 ostpreußische Zivilisten.Notdürftige Hilfe leisteten zurückbleibende deutsche Diakonissinnen und Rotkreuzschwestern, indem sie bis Ende 1945 im Königsberger Gebiet acht verlassene Häuser zu provisorischen Krankenhäusern herrichteten. Soweit sie dazu noch in der Lage waren, bettelten Patienten bei sowjetischen Militärküchen um Essensreste. Ab April 1946 hatte man sogar neun Waisenhäuser für 2.500 elternlose kleine Kinder geschaffen, deren Namen zum größten Teil nicht bekannt waren. Nun wurde auch die sowjetische Besatzungsmacht aktiv, indem sie 49 deutschsprachige Schulen mit zum Schluß 5.632 Schülern unter der Leitung von russischen Offizieren etablierte.

Es hatte sich unter den deutschen Kindern und Jugendlichen herumgesprochen, daß es im nicht allzu weit entfernten Litauen Möglichkeiten gab, Lebensmittel zu erbetteln, und so fuhren immer mehr Mädchen und Jungen als blinde Passagiere auf sowjetischen Militär- und Güterzügen ins Nachbarland. Sie trafen auf eine große Zahl von Litauern, die das Brot mit ihnen teilten oder ihnen Unterkunft boten. Manche nahmen deutsche Kinder auch für längere Zeit auf, sei es aus Mitleid, einige beuteten sie aber auch als billige Arbeitskräfte aus. Mit den erbettelten Nahrungsmitteln fuhren einige Kinder wieder als Schwarzfahrer nach Ostpreußen zurück, um ihre Angehörigen, die sonst dem Hungertod ausgesetzt gewesen wären, davon zu ernähren.

Anfang 1948, so schätzt der Autor, gab es im sowjetischen Teil Ostpreußens etwa 5.000 Waisenhausinsassen und 25.000 bis 30.000 „Litauenfahrer“. Die sowjetische Staatsführung war sich noch nicht sicher, ob sie die wenigen der ursprünglich im nördlichen Ostpreußen lebenden Deutschen assimilieren sollte, entschied dann aber, 100.000 Ostpreußen in die sowjetische Besatzungszone nach Mitteldeutschland abzuschieben. Manche Kinder und Jugendliche entzogen sich den Transporten, zumal sie oft ihre deutsche Muttersprache verlernt hatten und lieber in Litauen blieben. 

Im Oktober 1948 war die Abschiebeaktion abgeschlossen. In Pasewalk wurden sie deutschen Verwaltungsstellen übergeben, die sie medizinisch versorgten, denn viele Kinder waren so krank, daß sie in den ersten Wochen starben. Die Überlebenden wurden auf die mitteldeutschen Länder verteilt und mußten dort zunächst einige Zeit in Quarantäne zubringen. So befanden sich allein im vorpommerschen Kinderquarantänelager Eggesin 1.334 kranke Kinder. Aus den ärztlichen Untersuchungsberichten geht hervor, daß die Kinder in der Entwicklung stark zurückgeblieben waren, so hatten 13jährige oft nur einen Entwicklungsstand von 9jährigen erreicht.  

Bis 1950 hatten die Sowjets weitere 3.274 Ostpreußen, darunter wieder viele Kinder, die sich bisher verborgen gehalten hatten, gesammelt, um sie in den folgenden Jahren in die sowjetische Besatzungszone abzuschieben. Dabei wurde die SED-Führung angewiesen, ihre Ankunft geheimzuhalten. Viele Kinder wurden unverzüglich in Krankenhäuser der sowjetischen Besatzer gebracht. Auch dort starben viele von der von Hunger und Krenkheit Gezeichneten. Das Deutsche Rote Kreuz bemühte sich, Angehörige zu finden. Wo das nicht gelang, suchte man Pflegefamilien. Spatz berichtet, daß dies wenig Schwierigkeiten bereitete. Auch die Behörden und Fürsorgestellen in Mitteldeutschland zeigten sich sehr besorgt um die Kinder, die SED umwarb sogleich die Älteren, um sie für den Sozialismus zu gewinnen, was aber nicht sehr erfolgreich war. Die meisten von ihnen wollten weiter in die Bundesrepublik. 

Die familiär entwurzelten Kinder und Jugendlichen waren für ihr Alter ungewöhnlich selbständig, doch konnten die meisten weder lesen noch schreiben, hatten sie doch jahrelang keine richtige Schule besucht. Für viele war Litauisch die neue Muttersprache geworden. Sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik wuchs das Verständnis, diese Defizite der Kinder in besondere Förderschulen aufzuholen, was die ungewöhnlich lernbegierigen wie auch durchsetzungsfähigen Schüler gern annahmen. Viele hatten schon nach zwei Jahren den Volksschulabschluß erreicht. 

Die Schicksale trafen im Westen oft auf Desinteresse

1953 lebten ohne Kenntnis der sowejtischen Behörden immer noch 1.800 Deutsche im Baltikum. Doch in einer gezielten Aktion wurden diese nun aufgespürt. Allerdings wollten die Sowejts in Übereinstimmung mit dem SED-Regime diese nur zur Ausreise zwingen, wenn sie in der DDR bleiben. Dagegen wehrten sich die meisten. Erst 1955 änderte sich die Situation, als Adenauer nach seiner Moskauer Mission neben der Freilassung festgehaltener deutscher Kriegsgefangenen auch die Einrichtung einer deutschen Botschaft in Moskau verhandelte. Über diese ließen die Sowejts die letzten Ostpreußen nach und nach als Spätaussiedler nach Westdeutschland ausreisen. Spatz schildert, wie in Dörfern und Städten die Deutschen ihre endlich heimgekehrten Landsleute begeistert begrüßen. Den letzten gelang es jedoch erst Anfang der siebziger Jahre, den sowjetischen Machtbereich zu verlassen. 

Nahezu alle Ostpreußen, die das Schicksal nach 1945 zu überstehen hatten, litten unter dem, was man heute unter posttraumatischen Belastungsstörungen versteht. Die Genesung war um so schwieriger, als ihre zu gewissen Wohlstand gekommenen Landsleute den „Spätheimkehrern“ in vielen Fällen verständnislos gegenüber standen. Viele der 68er-Generation, denen „deutsche Opfer“ grundsätzlich suspekt waren, begegneten den Schicksalen der Traumatisierten nicht selten mit einer höhnischen Hartherzigkeit. In der DDR war das Thema „Vertreibung“ ohnehin tabuisiert. 

Aber auch die bundesdeutsche Bürokratie tat sich schwer, als es darum ging, den Spätheimkehrern die deutsche Staatsangehörigkeit zuzubilligen. Wesentlich trug der CDU-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Freiherr von Stetten, der sich intensiv dem Schicksal der jetzt endlich nach Deutschland heimgekehrten Ostpreußen widmete, dazu bei, daß schließlich alle Hürden überwunden wurden, die Ostpreußen ihre deutschen Pässe bekamen und nach 1990 auch eine Eingliederungshilfe. Dennoch waren sich viele Ostpreußen darin einig, daß „die Litauer das einzige Volk gewesen waren, das den Deutschen nach 1945 geholfen hat, ohne eine Gegenleistung zu verlangen“.

Zum Abschluß seines erschütternden Buches fragt der Autor, warum sich die Bundesregierung bis heute „nicht gekümmert hat um eine besondere Gedenkstätte für alle verhungerten ostdeut-schen Kinder, Mütter, Omas und Opas, in der auch die Gründe ihres Todes beim Namen genannt werden“. Man kann diese Frage an unsere herrschende politisch-mediale Klasse nur weitergeben.

Christopher Spatz: Nur der Himmel blieb derselbe – Ostpreußens Hungerkinder erzählen vom Überleben. Verlag Ellert & Richter, Hamburg 2017, broschiert 344 Seiten, 16,95 Euro