© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/17 / 19. Mai 2017

„Es ist eine Hexenjagd“
Welche Folgen haben die jüngsten Durchsuchungen bei der Bundeswehr? Der ehemalige Leiter ihres Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, General a.D. Günter Roth, kritisiert die geschichtspolitische Säuberung der Truppe
Moritz Schwarz

Herr Dr. Roth, Sie waren unter anderem als truppendienstlicher Vorgesetzter an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg eingesetzt. Dort wurde nun eine Fotografie des Namensgebers abgehängt, die diesen als Leutnant im Jahre 1940 zeigt. Empört Sie das? 

Günter Roth: Im Lichte seiner Lebensleistung kann dies kaum anders als erschütternde Verletzung der Ehre und Würde eines Mannes empfunden werden, der – wie Millionen deutscher Soldaten – in gutem Glauben als Frontoffizier pflichttreu und tapfer für sein Vaterland kämpfte. Diese Maßnahme, wer immer sie auch veranlaßt haben mag, ist zudem ein Schlag gegen die Soldaten der Wehrmacht, für die Bundeskanzler Adenauer, wie auch die Präsidenten Eisenhower, Mitterrand und de Gaulle eine Ehrenerklärung abgegeben haben. Und sie erscheint als Ausdruck bodenloser Geschichtsvergessenheit angesichts der Aufbauleistung der Wehrmachtsgeneration bei der Errichtung unserer Demokratie, der Wohlfahrt der Bürger und dem Aufbau der Bundeswehr. 

Entspricht der Vorwurf der Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, die Truppe habe auf verschiedenen Ebenen ein „Haltungs- und Führungsproblem“, den Prinzipien der Inneren Führung, die „den Menschen in den Mittelpunkt stellen“ soll? 

Roth: Die Verallgemeinerung der Ministerin – „die“ Bundeswehr – zeigt einen Mangel an präziser Ausdrucksweise. Es bleibt offen, was sie unter Haltung und Führung versteht. Subsumiert sie darunter die Kardinaltugenden eines Thomas von Aquin, also Wahrheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit? Oder die preußische Tugend kantscher Pflichterfüllung? Versteht sie darunter das Führen nach bewährten deutschen Grundsätzen im Sinne Scharnhorsts, Clausewitz’, Moltkes und Generaloberst Ludwig Becks?

Was vermuten Sie? 

Roth: Nicht definierte Begriffe oder pauschale Negativurteile zerstören die Homogenität, belasten das sensible innere Gefüge von Führung und Truppe. Das kann sich verheerend auf die Einsatzfähigkeit auswirken. Das erniedrigende Werturteil der Ministerin und das Schweigen der obersten Bundeswehrführung legen den Schluß nahe: Zumindest auf höchster Ebene hat das gelobte Konzept Innere Führung auf der ganzen Linie versagt. Haltung zeigen vielmehr junge Bundeswehroffiziere, die angesichts ihrer Afghanistan-Erfahrungen in dem Buch „Armee im Aufbruch“ feststellen: „Die Innere Führung ist weitgehend unverstanden.“

Gab es in der Wehrmacht so etwas wie Innere Führung? Schließlich legt das Konzept der sogenannten „zeitgemäßen Menschenführung“ nahe, in früheren Armeen sei menschenunwürdig geführt worden. 

Roth: Als Hauptmann der Wehrmacht geriet der „Schöpfer“ der Inneren Führung, Wolf Graf von Baudissin im November 1942 in Afrika in englische Gefangenschaft. Unter der warmen Sonne Australiens, gut verpflegt und mit Schreibzeug ausgestattet, erlebte er als „Prisoner of war“ die Kämpfe in den Eis- und Häuserwüsten Stalingrads nicht. Deshalb erscheint er nicht befugt, Führung und Einsatz der Wehrmachtssoldaten überhaupt zu beurteilen. Im Gegensatz zu dieser Anmaßung hat Helmut Schmidt immer wieder betont, seine maßgebliche Prägung als Soldat vor allem als junger Batteriechef im Erdkampf auf dem Ostkriegsschauplatz erhalten zu haben. Seine Batterie 8/8-Flakgeschütze kämpfte gegen Sowjetpanzer im direkten Richten, also Auge in Auge mit dem Gegner. Das erforderte Umsicht und Tatkraft, denn die Blicke seiner Männer richteten sich auf Schmidt. Sein Beispiel, seine seelische und physische Härte waren Voraussetzung für das Vertrauen und damit für ihre Tapferkeit. 

Wie geht die Säuberung bei der Bundeswehr weiter?  

Roth: Die Ministerin, angesichts der Kritik in den Medien und der Bundeswehr, scheint miserabel beraten von ihrer zivilen Entourage und obersten Militärs; so gerät sie in unheilvollen Zugzwang: Der Zauberlehrling, der die „feldgrauen Geister“ rief, ist zum nächsten unheilträchtigen Schritt genötigt: Nach der vom Generalinspekteur angeordneten „Durchsuchung“ – welch ein historischsemantischer Mißgriff – aller Kasernen nach „Wehrmachtsdevotionalien“ werden viele militärhistorische Bücher und vor allem eindrucksvoll bebilderte Dokumentationsbände der Wehrmacht sowie Bilder und Fotografien auf den Index gesetzt. In vorauseilendem Gehorsam, eine Folge auch schon militärischer Political Correctness, wurde in der Truppenschule des Heeres in Munster auch ein Bild des militärpolitisch hochbegabten Wehrmachtsgenerals Kurt von Hammerstein abgehängt – obwohl er nachweislich ein erklärter Gegner Hitlers war! Welch groteske Blüten diese Hexenjagd außerdem treibt, zeigt sich auch im Bundeswehrkrankenhaus Westerstede, wo eine Rotkreuzfahne entfernt wurde, weil sie die Flagge des letzten Truppenverbandplatzes in der Schlacht um Berlin 1945 ist. Dies ist eine Brüskierung der Tausenden Rotkreuzschwestern und Truppenärzte, die unter kaum faßbarer Opferbereitschaft und dem Bomben- und Granathagel der Roten Armee unzählige Soldatenleben gerettet haben. 

Auch Kasernen sollen umbenannt werden. 

Roth: Ich fürchte, das gibt ein Hauen und Stechen par excellence. Da wäre zuvörderst die Universität der Bundeswehr ins Visier zu nehmen, hat der spätere Kanzler und Elder statesman Helmut Schmidt seine Loki damals doch in der Paradeuniform der Wehrmacht geheiratet. Und was geschieht mit Adenauer, der seine Ehrenerklärung nicht nur für die Soldaten der Wehrmacht, sondern auch für die der Waffen-SS abgegeben hat? Wie sind ehemalige Bundespräsidenten einzuordnen, die in der Wehrmacht dienten, wie Walter Scheel oder Carl Carstens, wie die ehemaligen Verteidigungsminister Theodor Blank, Hans Apel, Kai-Uwe von Hassel und Franz Josef Strauß – letzterer, wie Helmut Schmidt, Offizier der Flakartillerie? Und was mit den Bildern von General Henning von Tresckow, Oberst Graf von Stauffenberg und anderen Männern des Widerstandes, die ja die Uniform der nun verpönten Wehrmacht tragen. 

Warum schweigen die obersten Militärführer der Bundeswehr zu all dem? 

Roth: Das Fach Geschichte führt nicht nur an unseren Schulen, sondern auch in der Bundeswehr ein jammervolles Dasein. Über historische Zusammenhänge herrscht oft Unwissen. Geschichte hat ihre frühere Anziehungskraft als kollektives Gedächtnis der Nation längst eingebüßt. Anziehungspunkte sind statt dessen Popkultur und Fußball. An den Universitäten und der Führungsakademie der Bundeswehr und an ihren Offiziersschulen ist die Geschichtswissenschaft weitgehend von den Sozialwissenschaften verdrängt worden. Die geisteswissenschaftlich-militärorientierte Bildung fristet ein trauriges Dasein. 

Sie waren bis 1995 Leiter des MGFA, des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes der Bundeswehr. Damit waren Sie allerdings doch mitverantwortlich für die historisch-politische Bildung!

Roth: Leider nein. Die sozialdemokratischen Verteidigungsminister legten großen Wert auf die „Heterogenität“ der vor und zu meiner Zeit im MGFA beschäftigten etwa fünfzig Wissenschaftler. Diese forschten „alleinverantwortlich“ gemäß Artikel 5 des Grundgesetzes „Freiheit von Forschung und Lehre“. „Operationsführungslehre“ führte zu nachhaltigen Auseinandersetzungen im Amt, die sogar vor Gericht ausgetragen wurden. Zwar gelangen dann unter den CDU-Ministern Manfred Wörner und Volker Rühe gewisse Verbesserungen, doch das Diktum des Artistoteles, gerichtet an seinen Zögling Alexander, den späteren Großen, „Militärgeschichte ist der Proviant der Kriegskunst“, blieb im MGFA, trotz der Unterstützung von General a.D. Graf von Kielmansegg, Illusion. Ich unterlag letztlich dem Zeitgeist: Militärgeschichte als Lektion und Erfahrungswissenschaft – das blieb auf der Strecke. Obwohl es mir mit Hilfe von Minister Rühe gelang, einen Lehrstuhl für Militärgeschichte an der neu gegründeten Bundeswehruniversität im Neuen Palais Friedrichs des Großen in Potsdam als Stiftungsprofessur des Ministeriums der Verteidigung einzurichten und mit einem MGFA-Historiker zu besetzen. Unter anderem deshalb habe ich, gegen große Proteste, das Amt 1994 von Freiburg nach Potsdam verlegt.  

Wird es tatsächlich zur angekündigten Umbennenung von Kasernen kommen? 

Roth: Sollten Kasernen, wie die nach Feldmarschall Rommel benannten, einer Inquisition zum Opfer fallen, wäre das, ebenso wie etwa die Äußerung des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier in Jerusalem „Die Bundeswehr hat nichts mit der Wehrmacht zu tun“, das Ende der Militärgeschichte als Brevier  des Soldaten in Frieden und Krieg. An die Stelle der Transformation bewährter Grundsätze von Führung und Menschenführung, ohne die etwa Friedrich der Große den Siebenjährigen Krieg gegen die Mächte Europas niemals hätte gewinnen können oder Preußen in den Befreiungskriegen gegen Napoleon nicht hätte siegen können, ist nun während des Debakels in Afghanistan eine „Taschenkarte“ für den Soldaten – also ein Faltblatt im Tornister – getreten. Und um die „Haltungs- und Führungsschwäche“ zu beseitigen, verkündete die Ministerin an der Führungsakadamie der Bundeswehr: „Die Zeit des Befehlens von oben herab, die des Patriarchen ist vorbei!“ Statt dessen: „Nur wer überzeugen kann, wird Erfolg haben!“

Was bedeutet das für die Führungsfähigkeit der Bundeswehr? 

Roth: Das Ende des grundlegenden Prinzips von Befehl und Gehorsam! Das Zerbrechen der allen Armeen eigenen hierarchischen Struktur der Disziplin! Und angesichts der „Haltungs- und Führungsschwäche“ der Bundeswehr verfällt die Ministerin auf eine fast unglaubliche Idee: ein „Führungskräfte-Coaching“ am Zentrum Innere Führung der Bundeswehr in Koblenz einzurichten. 

Warum ist das „fast unglaublich“? 

Roth: Es zeugt von der eklatant falschen Annahme, Führungsfähigkeit und Haltung erlerne sich von unten nach oben. Tatsächlich aber schaut doch der Sohn auf den Vater, der Kompaniechef auf den Bataillons- und den Brigadekommandeur. Wir, die ersten Offiziere und Unteroffiziere der Bundeswehr blickten auf unsere Vorgesetzten, wovon nicht wenige mit dem Ritterkreuz fast aller Stufen, der Nahkampfspange oder dem goldenen Verwundetenabzeichen ausgezeichnet waren. Wir jungen Offiziere sahen in ihnen ein Beispiel. Das war meist auf ihre Persönlichkeit bezogen und hatte wenig mit der Wehrmacht oder gar ihrer „Verherrlichung“ zu tun. Wie jede Armee ist auch die Bundeswehr ein Spiegelbild der Gesellschaft. Ist der Bürger in die Demokratie integriert, ist es auch der Soldat. Die Bundeswehr kann und soll durch die Innere Führung nicht – wie die Armee im Kaiserreich – die „Schule der Nation“ sein. Der Berufs- und Zeitsoldat, nicht der Wehrpflichtige, ist ob seines Lebensalters, seiner Bildung und Erfahrung die eigentliche Klammer zwischen Volk und Armee. Der Offizier, insbesondere die oberste militärische Führung, verkörpert die Inhärenz von Politik und Militär, also das Ineinander-verhaftet-Sein – eigentlich ein Grundpfeiler jeden Staates.  

Was passiert nun, wenn auch ein Name wie Rommel getilgt wird? 

Roth: Dies wird von Teilen der konservativen Generation als ein Schlag gegen das deutsche Soldatentum gedeutet und die aufgewühlte Szene und damit auch die Bundeswehr nicht zur Ruhe kommen lassen. Dies muß gravierende Auswirkungen auf die Substanz der Bundeswehr und die Nachwuchsgewinnung haben. Die politische und militärische Führung verspielt damit zudem eine kaum zu hoch einzuschätzende Chance: nicht nur den Soldaten, sondern auch dem Volk eine Persönlichkeit im Bewußtsein präsent zu halten, die neben ihren militärischen auch außergewöhnliche Charaktereigenschaften und politisches Denken in schwieriger Lage zum Ausdruck brachte. Rommel führte, um das Höchste von seinen Männern verlangen zu können, nach den nach Scharnhorst, Gneisenau und Clausewitz formulierten preußisch-deutschen Felddienstordnungen. 

Zum Beispiel? 

Roth: Vorbild zu sein in allen Lagen, wissend, daß die Augen seiner Männer auf ihm ruhen. Eines dieser Prinzipien lautete: „Nie rastende Fürsorge für das Wohl seiner Mannschaft ist das schöne und dankbare Vorrecht des Offiziers. Dieser muß auch den Weg zum Herzen seiner Soldaten finden und Verständnis für ihr Fühlen und Denken aufbringen“, so die Heeresdienstvorschrift 300/1 von 1936. Würden die deutschen Truppenführer im Zweiten Weltkrieg nicht nach diesen Prinzipien geführt haben, nie hätten sie so erfolgreich sein können, wie es in vielen herausragenden Operationen abzulesen ist. Die aus diesen Maximen resultierende „Auftragstaktik“ ist keine Erfindung der Bundeswehr, sondern reicht weit in die deutsche Militärgeschichte zurück, bis zu Friedrich dem Großen. Übrigens, weil nach diesen Grundsätzen die deutschen Kontingente in Afghanistan nicht geführt wurden und nicht kämpfen durften, waren ihre Leistungen und Opfer weitgehend vergebens. Zwar kann man im Zweiten Weltkrieg vollbrachte militärische Leistungen angesichts der verbrecherischen politischen Führung nicht per se rühmen. Falsch wäre es aber auch nach Auffassung des katholischen Moralphilosophen Josef Pieper, sie einfach als „verbrecherisch“ zu verurteilen. Denn damit würde, so warnt Pieper, „aus der Geschichte für ein andermal nicht gelernt“ werden können, wie dies der große Schweizer Historiker Jacob Burckhardt in seinen „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ als eine Quintessenz aus der Geschichte gleichsam fordert. Die Reflexion über ein furchtbares Geschehen und somit die innere Reinigung, die Katharsis, könnte nicht gelingen. Denn fruchtbar können die Leistungen der Soldaten der Wehrmacht auch heute sein, wenn sie unvoreingenommen, unter den genuinen Bedingungen von Armeen, die für Freiheit und Recht kämpfen, diskutiert und Gegenstand der historischen und politischen Bildung sein würden. Dabei sollte auch die Tugend der Tapferkeit nach Thomas von Aquin der Wahrheit und Gerechtigkeit gemäß ohne Scheu als eine Maxime sui generis, im Sinne des Kardinal Ratzinger betrachtet werden: Der deutsche Soldat hat überaus tapfer seine Pflicht getan.






Dr. Günter Roth, der Historiker, Fallschirmjäger und Brigadegeneral a.D. war von 1985 bis 1995 Leiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes der Bundeswehr in Freiburg im Breisgau und Potsdam sowie im gleichen Zeitraum Präsident der Kommission für Militärgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Zuvor kommandierte er die Luftlandebrigade 27 in Lippstadt und leitete die Fachschule des Heeres für Erziehung und Wirtschaft. Geboren wurde Günter Roth 1935 in Würzburg, wuchs aber bis 1945 nahe Sorau in Schlesien auf. 

Foto: Pforte der nach dem Wehrmachtoffizier Helmut Lent benannten Kaserne in Rotenburg/Wümme (Niedersachsen): „Erniedrigendes Urteil der Ministerin, Schweigen der Führung“

 

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