© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/17 / 19. Mai 2017

Das Jetzt, das schon ein Gestern ist
„Nur Gutes im neuen Jahr“: Eine Ausstellung im Schlesischen Museum erinnert an den Maler Heinrich Tischler und seinen Breslauer Kreis
Paul Leonhard

Gedankenverloren schaut Heinrich Tischler den Betrachter an. Die Brille hat er auf die Stirn geschoben. Mit dem kleinen Finger der rechten Hand, elegant abgespreizt, popelt er in seiner Nase. „Meine Beschäftigung im Juni 1934“, hat er lakonisch auf dem Selbstporträt notiert. Die Zeichnung ist eines der Glanzstücke in der Sonderausstellung „Verfolgte Kunst. Der jüdische Künstler Heinrich Tischler und sein Breslauer Kreis“, die derzeit im Schlesischen Museum zu Görlitz zu sehen ist.

Die Ausstellung begleitet den Künstler – flankiert von Werken seiner Künstlerkollegen – bei seiner Suche nach einer eigenen Bildsprache zwischen den modernen Kunsttendenzen seiner Zeit. Seine expressiven Bilder zur Lebenssituation der Menschen sind faszinierende Zeitzeugnisse. Höhepunkt der Ausstellung sind seine Bilder zur jüdischen Glaubenswelt sowie seine Reaktionen auf die Unterdrückung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung seit 1933, der er selbst und zahlreiche weitere Künstler zum Opfer fielen.

Kämpfe zu Beginn der Weimarer Republik

„Ich beherrsche das Wort nicht. Sie werden also nur einen Bruchteil von dem hören, was mich bewegt. Der Leinwand vermöchte ich mehr anvertrauen. Indessen steht es hier nicht viel besser. Wenn ich vor dem Fertigen stehe, blickt mich allemal meine eigene Unzulänglichkeit an.“ Diese Sätze schrieb Tischler für eine Veröffentlichung in der Publikation „Das graphische Jahr“ der Berliner Galerie Fritz Gurlitt 1921 und 1922. Es ist der bisher einzig bekannte Text Tischlers über sein künstlerisches Selbstverständnis: „Die Zeit will ich malen, nicht unsere Zeit, sondern die ‘Zeit’, das ‘Jetzt’, das schon ein ‘Gestern’ ist.“

Heinrich Tischler wird am 25. Mai 1892 als Sohn des jüdischen Unternehmers Louis Tischler im oberschlesischen Cosel geboren. Er wächst in der prosperierenden Metropole Breslau auf, wo ihm sein Vater eine gründliche Ausbildung ermöglicht. Nach dem Besuch des Gymnasiums erlernt er das Tischlerhandwerk und besucht die Architektur- und Malklasse an der Königlichen Akademie für Kunst und Kunstgewerbe. Unterbrochen wird seine künstlerische Entwicklung durch den Ersten Weltkrieg, an dem er als Soldat teilnimmt. Ein Selbstporträt von 1915 zeigt ihn in Uniform.

Eine Mappe mit Zeichnungen aus dieser Zeit ist es auch, die in der Ausstellung am meisten beeindruckt; unter anderem sind Lanzenreiter im Galopp zu sehen. Ganz im Stil der ausdrucksstarken Expressionisten ist ein 1918/19 entstandener Lineolschnitt auf farbig bearbeiteten Papier gehalten, der energisch ausschreitende Männer mit grimmigen Gesichtern zeigt und den Titel „Revolte II“ trägt. Er gibt Zeugnis von der Auseinandersetzung Tischlers mit den Kämpfen zu Beginn der Weimarer Republik.

In den 1920er Jahren prallen in Breslau die sozialen Gegensätze aufeinander. Bereits 1920 wurden in Breslau während des Kapp-Putsches sechs jüdische Bürger von Freikorpsverbänden ermordet und am 23. Juli 1923 hundert vor allem jüdische Geschäfte geplündert. Für die jüdische Gemeinde, immerhin nach Berlin und Frankfurt am Main die drittgrößte in Deutschland, ein bleibender Schock.

In einer von Tischler 1923 mittels Holzschnitt festgehaltenen „Szene aus der Breslauer Altstadt“ ist ein Leichenzug zu erkennen, und verhärmt sind die Gesichter der Menschen auf einem Ölbild. Vor allem in Radierungen und Lithografien hält Tischler die trostlosen sozialen Zustände der Nachkriegszeit fest. Gleichzeitig faszinieren ihn „ostjüdische Typen“, wie sie in jenen Jahren in der Stadt häufig anzutreffen sind. Wie die meisten jüdischen Künstler in Breslau setzt sich auch Tischler in seinen Werken mit der jüdischen Lebenswelt und ihren Bildtraditionen auseinander.

1938 kam Tischler ins KZ Buchenwald

Deutlich wird in der Ausstellung, daß Tischler sein Leben lang nach einer eigenen Bildsprache zwischen den im Freundeskreis kontrovers diskutierten modernen Kunsttendenzen suchte. In zahlreichen Blättern verarbeitet er nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 die stetig wachsende Unterdrückung und Verfolgung. Der Maler, Grafiker und Architekt Tischler erhält nur noch wenige Aufträge. Aus dem hoffnungsvollen Talent, das auf einen künstlerischen Durchbruch in Berlin gehofft hatte, ist ein Entrechteter geworden. Seine Mäzene, zum Großteil jüdische Geschäftsleute, werden eingesperrt oder flüchten aus Deutschland, eine Mitgliedschaft in der Reichskulturkammer ist ihm als Juden verwehrt. Der Freundeskreis zerfällt.

Tischler flüchtet ins Private, arbeitet als Mallehrer, lehrt hebräische Kalligraphie. Aus dem „wild gärenden Talent“ der 1920er Jahre ist ein resignierter Mann geworden, der sich mit dem Gedanken trägt, nach Palästina auszuwandern. Die eigenen Werke signiert Tischler fortan mit hebräischen Buchstaben.

„Nur Gutes im neuen Jahr“, wünscht der Künstler auf einer Grafik 1938. Es sollte sein letztes Jahr werden. Nach der Pogromnacht vom 9. November wird Tischler verhaftet und ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht. Seine Familie interveniert erfolgreich, so daß Tischler im Dezember entlassen wird. Allerdings ist der 46jährige durch die Lagerhaft gesundheitlich so angeschlagen, daß er vier Tage später, am 16. Dezember, im jüdischen Krankenhaus in Breslau stirbt.

Daß er zu den wenigen jüdischen Künstlern der Zwischenkriegszeit gehört, dessen Werke zum Großteil erhalten blieben, ist seiner Ehefrau Else zu danken. Diese reiste 1939 mit den beiden Söhnen nach Großbritannien aus. Dabei durfte sie Gemälde und Zeichnungen mitnehmen. Einen Teil des Nachlasses verschenkte sie später nach Israel, einen anderen verkaufte sie an den Kasseler Kunstsammler Hans Peter Reisse, der ihn wiederum dem Schlesischen Museum veräußerte.

Die Ausstellung ist bis zum 9. Juli im Schlesischen Museum zu Görlitz, Brüderstraße 8,  täglich außer montags von 10 bis 17 Uhr zu sehen.  Der Katalog kostet 15 Euro.

 www.schlesisches-museum.de