© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/17 / 19. Mai 2017

Alles im Dienste der Sendung
Wie Kolonialmächte sich im Spiegel der Geschichte sahen: Narrative britischer und französischer Historiker zwischen 1919 und 1939
Dirk Glaser

Wie blicken andere Völker im Unterschied zu den Deutschen auf ihre Vergangenheit? Welches Bild von eigener und fremder Geschichte machen sie sich? Sofern die gern kosmopolitisch auftrumpfenden bundesrepublikanischen Historiker und ihre feuilletonistischen Dolmetscher überhaupt dafür Interesse aufbrachten, beschränkte sich die Neugier bis vor zwanzig Jahren auf Vergangenheitskonstruktionen von US-Kollegen, von Briten und Franzosen. 

Mit deutlicher Präferenz für die Nachbarn jenseits des Rheins. Wobei in den achtziger und neunziger Jahren der Eindruck entstand, Frankreich schaue exklusiv durch die Brille der Historikerschule der „Annales“ bis ins Altertum zurück, als Majestix und nicht Cäsar über Gallien herrschte. Hervorgegangen aus einem Kreis von Geographen, Soziologen und Historikern an der 1918 wieder französischen Universität Straßburg, benannt nach ihrer seit 1929 erscheinenden Zeitschrift, den Annales d’historie économique et sociale (seit 1994 Annales. Histoire, Sciences sociales), bot diese Schule auf den ersten Blick alles, was man wegen der angeblich „belasteten“ Fachtradition auf deutscher Seite vermißte: Alltagsgeschichte, Mentalitäten und „kleine Leute“ statt „großer Männer“, Sozial- und Wirtschafts- statt „machtstaatlich“ deformierter Politik-, Diplomatie- und Militärgeschichte, Orientierung an langsam sich vollziehenden, von Natur und Umwelt mitbestimmten Entwicklungszyklen statt an vordergründigen „Ereignissen“. Äußerst günstig auf die begierige Rezeption wirkte sich die schiefe Wahrnehmung der zum Vorbild erkorenen Annalisten als „links“ und „fortschrittlich“ aus. Zuschreibungen, die das Schicksal Marc Blochs, eines ihrer jüdischen Gründerväter, zu beglaubigen schien, da er 1944 ein Opfer der deutschen Besatzungsmacht wurde.

Peinlich mutet allerdings an, wie die mehrheitlich heftigen Affekten gegen das Eigene unterworfenen deutschen Annales-Adepten einerseits nicht erkannten, daß Marc Bloch und seine Mitstreiter bis 1945 eine eher randständige Rolle spielten, und sie auch nach 1945, als sie ihre Stellung institutionell tatsächlich festigten und ihre Historienbilder in die französische Öffentlichkeit diffundierten, nicht identisch mit der französischen Geschichtswissenschaft waren. 

Typisch deutsche Suche nach „Distanz zur Nation“

Und andererseits, noch peinlicher, daß der deutsche Selbsthaß blind machte für die eigene disziplinäre Überlieferung. Sonst wäre aufgefallen, wie dankbar die Annalisten methodologische Innovationen der wilhelminischen Historiographie aufgegriffen hatten. Die 1903 gegründete Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftgeschichte darf als direkter Vorläufer ihrer Annales gelten. Und die Verknüpfung von Wirtschafts- und Kulturgeschichte gehörte in Leipzig (und nicht nur dort), in der Arbeitsgemeinschaft des Historikers Karl Lamprecht mit dem Geographen Friedrich Ratzel (horribile dictu: einem geistigen Vater der „Geopolitik“) und dem Völkerpsychologen Wilhelm Wundt, lange vor 1914 zum Forschungsalltag. Von hier führt ein schnurgerader Weg zu der sich in der Weimarer Republik formierenden „Volksgeschichte“, in deren oft personeller Kontinuität wiederum die moderne Sozialgeschichtsschreibung der frühen Bundesrepublik stand. 

Fairerweise ist zu konzedieren, daß diese Begeisterung für die Annalisten enorm abgekühlt ist. Was mit dem gesunkenen Kurswert der Sozialgeschichte zusammenhängt, dem Herzstück des „emanzipatorischen“ 68er-Projekts, Geschichte zur „Historischen Sozialwissenschaft“ umzubauen und derart einen Beitrag zu „Bewußtseinswandel und Gesellschaftsveränderung“ zu leisten. Da im Zeichen von Agenda 2010 und Hartz IV dann selbst die Sozialdemokratie die „soziale Frage“ beerdigte und Frieden mit dem neoliberalen Status quo des globalisierten Kapitalismus schloß, mußten deutsche Historiker ihr Dienstleistungsangebot an veränderten Bedürfnissen der Politik und der Kulturindustrie neu ausrichten, fort vom aufklärerisch-sozialhistorischen, hin zum „transnationalen Paradigma“.  

Was sich allerdings nicht änderte, war die Heilserwartung, wonach allein „der Westen“ sinnstiftende Perspektiven im Umgang mit vergangenen Gegenwarten parat halte. Wobei man hoffte zu lernen, diesmal vornehmlich von angelsächsischen Kollegen, wie sich der kurz nach der Wiedervereinigung von den Herrschenden hierzulande verkündete „Abschied vom Nationalstaat“ am besten als welthistorisches Gesetz ausgeben und geschichtspolitisch legitimieren lasse. Diese sehr deutsche Suche nach der „Distanz zur Nation“ spielte für die Bielefelder Historikerin Anne Friedrichs bereits bei der Rezeption der Annales-Schule eine wichtige Rolle, da man sich mit deren Wertuniversalismus deshalb gern identifizierte, weil er über 1945 hinaus wacker der französischen Nationalgeschichtsschreibung opponiert habe. 

In ihrem Beitrag über die „Narrative“, die das kollektive Gedächtnis formenden „großen Erzählungen“ britischer und französischer Historiker zwischen 1919 und 1939, zeigt Friedrichs, wie fern die Annalisten dominanten Diskursen eigentlich standen (Historische Zeitschrift, 304/2017). Die seien, in England wie in Frankreich, zwischen Nationalisten und Universalisten ausgetragen worden. Wobei die globalgeschichtliche Horizonterweiterung nicht automatisch bedeutete, zur Nation auf historiographische Distanz zu gehen.

Wie bei Historikern der führenden europäischen Kolonialmächte nicht weiter verwunderlich, prägte imperiale Erfahrung ihre Deutungsmuster. Bei den Franzosen sogar noch nachhaltiger als bei den Briten. Denn französische Historiker hätten ihrer Nation die „nahezu göttliche Bestimmung“ appliziert, die Menschheit zu „zivilisieren“. In einem offiziösen sechsbändigen Werk zur Geschichte der französischen Kolonialexpansion („Histoire des colonies françaises et de l’expansion de la France dans le monde“, 1929–1932) sei diese „Zivilisierungsmission“ schließlich kanonisiert worden. Darin will Friedrichs den Versuch einer mit Diplomatie und Koloniallobby eng verzahnten Historikerfraktion sehen, die Nationalidee neu am Übersee-Imperium zu orientieren. Was zu Lasten des nationalen Narrativs ging, das auf den Kampf um die „natürliche“ Grenze am Rhein und das Ringen mit dem deutschen „Erbfeind“ fixiert blieb.

Das kühne Konstrukt einer weltoffenen Historiographie

Auch Friedrichs’ Analyse britischer Handbücher, wie der voluminösen „Cambridge History of British Foreign Policy“ (1922/23) oder der „Oxford History of England“ (1934–1965), fördert solche konkurrierenden „Sinnkonstruktionen“ zutage, die „eine Welt neben der Nation“ beachteten. Während der liberale und sozialliberale Flügel die historiographische Internationalisierung der britischen Geschichte forcierte, um ein Bewußtsein für die Notwendigkeit zu schaffen, auch die Politik des Empire auf Völkerbund und Weltfrieden zu verpflichten, habe sich eine andere Gruppe verstärkt auf die „Entfaltung und Vermarktung“ imperialer Traditionen und die Legitimierung des ebenfalls, primär den Indern, zivilisatorischen Segen bringenden Empire verlegt und dafür institutionellen Rückhalt erfahren durch neue Lehrstühle für Imperialgeschichte am Londoner King’s College und für Seegeschichte an der Universität Cambridge. 

Einmal abgesehen davon, daß die Entdeckung einer französischen Historikerequipe, die obsessiv die zivilisatorische Missionsidee propagierte, alles andere als originell ist, sondern bereits im „Krieg der Geister“ (1914/18) und im „Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften“ gegen Frankreich (1939/40) deutscherseits gründlich traktiert wurde, verdeckt Friedrichs’ Inspektion der anglo-fränkischen Historikerschaft doch erheblich die wahren Kräftekonstellationen. 

Das geschieht vor allem durch die Unterbelichtung des jeweils nationalistischen Lagers. Auf britischer Seite jener Historiker, die weniger auf das Empire als auf Englands Rolle im europäischen Mächtespiel blickten. Deren französische, indes chauvinistisch radikalisierte Entsprechung, die „royalistisch-katholische Geschichtsschreibung“, die das Versailler Diktat „historisch“ begründen half, erwähnt Friedrichs gleichfalls nur im Nebensatz.

So ersetzt sie dann am Ende das überholte „Vorbild Annales“ durch das nicht weniger kühne Konstrukt einer „weltoffenen“ Historiographie des Westens. Die habe zwar, „entsprechend ihrer Zeit“, wie es rücksichtsvoll heißt, die kolonisierten „farbigen“ Völker „kaum als gleichrangig“ anerkannt. Trotzdem seien die im Unterschied zu Deutschland und Italien angeblich „pluraler organisierten“ akademischen Historiker mit ihren Narrativen „im Ganzen betrachtet potentiell integrativer“ gewesen. 

Den Nachweis dafür bleibt Friedrichs genauso schuldig wie für die flott pauschalierende Behauptung, britische und französische Historiker hätten „die Nation nicht immer an erste Stelle“ gesetzt, weil sie sich auf universalistische „liberale und republikanische Prinzipien, Normen, Werte und Verfahren wie Freiheit, Partizipation, Ausgleich der Interessen, soziale Verantwortung und Erziehung zum Bürger“ bezogen hätten. Akademische Edelmenschen halt, von deren Humanität, so der suggerierte Schluß, sich der deutsche Barbar eine dicke Scheibe abschneiden sollte.