© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/17 / 26. Mai 2017

Pankraz,
Karl-Otto Apel und der ideale Diskurs

Das Ziel des herrschaftsfreien Diskurses von Jürgen Habermas ist immer nur die diskursfreie Herrschaft.“ Diese seinerzeit eher beiläufig zu Papier gebrachte, aber ungemein erhellende Notiz aus Ulrich Schachts Tagebüchern fiel Pankraz ein, als er vorige Woche vom Tod des Philosophen Karl-Otto Apel (1922–2017) las. Wieder einmal wurde ihm klar, was für schlimme Folgen ursprünglich rein theoretisch gemeinte, genuin „wissenschaftliche“ Sätze in der praktischen Politik haben können.

Apels großes Thema war die Auseinandersetzung mit Immanuel Kant und seinem „Kategorischen Imperativ“. Dieser lautet in der Originalform: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Der Volksmund sieht es bekanntlich ähnlich und hat das Sprichwort geschaffen: „Was du nicht willst, das man dir tu, / Das füg auch keinem andern zu.“ Für Apel indessen klang der Ethiker Kant viel zu „subjektiv“, und es ging ihm sein Leben lang darum, dagegen eine „objektive Diskursethik“ zu formulieren.

Es gibt, so argumentierte er, eine objektive „Lebenswelt“ mit eigenen Strukturgesetzen, die das soziale Kollektiv in einem „praktischen Diskurs“ freilegen und denen es folgen muß, wenn es nicht in Irrtum und Krieg aller gegen alle versinken will. An die Stelle des Individuums bei Kant, das irgendwelchen abstrakten, aus leerem Himmel herabgeholten Maximen folgt, müsse also eine „Ethik der solidarischen Verantwortung derer treten, die argumentieren können und für alle diskursfähigen Probleme der Lebenswelt offen sind“.


Habermas und Apel waren befreundet, jedenfalls gut miteinander bekannt, beide stammten aus guten Bürgerhäusern in Düsseldorf, beide hatten – wenn auch in unterschiedlichen Jahren – bei Professor Erich Rothacker an der Universität Bonn studiert, beide nahmen später, während der stürmischen 68er Jahre, Lehrstühle in Frankfurt am Main und in Marburg ein. Apel war allerdings gegen das Rabaukentum und den Gei-stesterror der damals dort herrschenden marxistischen SDS-Gruppen und nahm dafür manche Mißlichkeiten in Kauf. So wie der SDS hatte er sich seine Herrschaft der Diskursethiker keineswegs vorgestellt. 

Jürgen Habermas hingegen ließ sich voll auf die neuen rabiaten Herrschaftsverhältnisse an den „Reformuniversitäten“ ein. Die Diskursethik seines Freundes Karl-Otto kam ihm gerade recht, um selbst möglichst stromlinienförmig nach oben zu kommen. „Der hypothetische Blick des moralisch urteilenden Subjekts“, schrieb er in seinen „Erläuterungen zur Diskurs-

ethik“, trenne die personalen Beziehungen der verantwortlich Handelnden nicht deutlich genug von der Lebenswelt. „Dadurch verwandeln sich die zum Problem gewordenen Normen in Sachverhalte, die gültig, aber auch ungültig sein können.“

Mit anderen, weniger verqueren Worten: Um Sachverhalte zu echten Problemlösungen zu führen, müßten vor allem die „verantwortlich Handelnden“ ständig kontrolliert und danach ausgewählt werden, ob sie auch wirklich die reale Lebenswelt richtig verstünden und nicht lediglich aus banalem Eigeninteresse heraus argumentierten. Und wer allein dürfe die Diskurs-

teilnehmer kontrollieren und auswählen? Natürlich nur diejenigen, die sich für „das Ganze“ verantwortlich fühlten, also die Ideologen und professionellen Besserwisser, also Gestalten wie  Professor Habermas & Co.

Besonders drollig in diesem Zusammenhang die Ernennung des Diskurses der von Habermas & Co. Kontrollierten und Ausgewählten zum einzig „herrschaftsfreien“ Diskurs, der überhaupt denkbar sei. Nicht die sichtbar direkt, auch persönlich, von einer Sache betroffenen  Diskursteilnehmer werden geadelt, sondern ausgerechnet diejenigen, die der Sache prinzipiell fernstehen (weil sie sich ja „ums Ganze“ kümmern müssen) und sich definitive Gesamturteile anmaßen, rücken unter den Glorienschein der Herrschaftsfreiheit. Und dabei sind gerade sie es, die geradezu süchtig nach Herrschaft sind!


Peter Sloterdijk hat schon vor Jahren sehr eindrucksvoll über die Folgen solch entfesselter Herrschaftssucht berichtet. Er hatte auf Schloß Elmau auf einem theologischen Symposion einen Vortrag über vorgeburtliche Diagnostik und Selektion gehalten; anknüpfend an Heideggers berühmten Humanismusbrief von 1946 hatte er einige interessante Ansichten geäußert, zum Beispiel daß es einen Unterschied zu machen gelte zwischen „legitimen genmedizinischen Optimierungen für die Einzelnen“ und „illegitimen Biopolitiken für Gruppen“. 

Alsbald hob in der linken Presse, in der Frankfurter Rundschau und der Süddeutschen Zeitung, in der Zeit und im Spiegel, ein wüstes Geschrei an, eben über den „Faschisten“ Sloterdijk. Der habe „mit ungeheuerlicher Aggressivität“ eine „Wiedergeburt der Menschheit aus dem Geiste des Reagenzglases“ gefordert, „und das vor teilweise jüdischen Zuhörern!“ Sloterdijk konnte damals bis ins kleinste Detail nachweisen, daß hinter alledem der Großaufseher Habermas steckte, der alle von ihm selbst installierten Soldschreiber loslegen ließ, um Sloterdijk sofort ins dafür vorgesehene Antifa-Loch hinabzustoßen.

Heute ist diese Art von öffentlichem Diskurs längst zur medialen Alltagspraxis geworden; die Konsequenzen, die das hat, sind in jedem Belang verheerend. Nicht zuletzt leidet darunter auch die Erinnerung an den Diskursethiker Karl-Otto Apel, dessen Ansehen – etwa im Vergleich zu dem des Falsifizierungs-Predigers Karl Raimund Popper oder des Paradigma-Kritikers Thomas S. Kuhn – ohnehin sehr gelitten hat.

Es stimmt ja auch: Gänzlich herrschaftsfrei ist kein ernsthafter Diskurs, dafür sorgt schon die Vielfalt der sprachlichen Möglichkeiten. Das Leben ist auf Herrschaftsfreiheit einfach nicht eingerichtet; es geht immer nur darum, Herrschaft zu kultivieren, zu liberalisieren, sie gerecht zu verteilen. Kant wußte schon, warum er seinen Kategorischen Imperativ als reinen Sollenssatz formulierte, nicht als Seins-Satz.