© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/17 / 26. Mai 2017

In der Wohnung eingesperrt
Thriller: In „Berlin Syndrom“ erlebt eine junge Touristin einen Horrortrip
Claus-M. Wolfschlag

Berlin ist sexy. Zumindest in der Vorstellung vieler Touristen aus fernen Ländern. Möglicherweise es der rauhe Charme der deutschen Hauptstadt, der ihr besonderes Flair ausmacht. Das oft ungezügelt aus dem Asphalt hervorwachsende Kreative, das nicht selten direkt neben dem kleinbürgerlichen Kiez-Mief existiert. Trotz aller Glättungen und „Gentrifizierungen“, die die Stadt nach der Zerrissenheit von Krieg und Teilung logischerweise auf ihrem Heilungsweg erfahren hat.

Regisseurin Cate Shortland lebte selbst zwei Jahre in der Hauptstadt. In ihrem Psychothriller „Berlin Syndrom“ verkörpert die australische Backpackerin Clare (Teresa Palmer) nahezu idealtypisch eine junge Berlin-Touristin. Vor allem an subkulturellen Spezifika interessiert, schlendert sie mit ihrer Fotokamera durch das quirlige Leben der Großstadt. Mit Kreativität fängt sie dabei die sie faszinierenden Motive ein, seien es Teppiche ausschüttelnde Türkinnen, rauhe DDR-Architektur oder eine heimelige Schrebergartensiedlung.

In einem Antiquariat lernt sie zufällig Andi (Max Riemelt) kennen. Der junge Englischlehrer wirkt charmant, und Clare findet Gefallen an ihm. Die beiden schlendern durch die Stadt, und statt nach Dresden weiterzureisen, beschließt Clare nun doch noch ein Weilchen mit Andi zu verbringen. Sie zieht in seine Wohnung, die beiden landen im Bett miteinander.

Doch als Clare am nächsten Tag die Wohnung verlassen will, ist diese verriegelt. Glaubt sie anfangs noch an ein Versehen, so wird ihr langsam bewußt, daß sie Andis Gefangene geworden ist. Ein Aufbruch der Tür ist nicht möglich, die Fenster sind nicht zu öffnen und bestehen aus Panzerglas, das unsanierte alte Gründerzeithaus und der Hinterhof sind abgesehen von Andis Wohnung leerstehend. Es beginnt für Clare ein qualvolles Leben in der Gefangenschaft des äußerlich ruhig wirkenden Lehrers und ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen den beiden Akteuren.

Geschichten gefangengehaltener Frauen geistern immer wieder durch die Nachrichtenspalten. Bekannt wurde vor allem der Fall von Natascha Kampusch, die von 1998 bis 2006 acht Jahre im Haus des arbeitslosen Nachrichtentechnikers Wolfgang Priklopil in der Nähe von Wien gefangengehalten wurde, ehe ihr die Flucht gelang.

Noch spektakulärer geriet die Geschichte des Niederösterreichers Josef Fritzl, der bis 2008 seine leibliche Tochter 24 Jahre lang in einer unterirdischen Behausung gefangenhielt und mit ihr sieben Kinder zeugte. Im letzten Jahr wanderte der Fall eines sadistischen Paares aus einem Dorf bei Höxter durch die Medien, das per Kontaktanzeigen gesuchte Frauen teils Monate gefangengehalten und schwer mißhandelt hatte.

Auch aus den USA sind ähnliche Fälle bekanntgeworden. So wurden 2013 drei Frauen aus einem Haus in Cleveland befreit. 2014 gelang einer jungen Frau in Santa Ana, Kalifornien, die Flucht nach zehn Jahren der Gefangenschaft.

Cate Shortlands Film basiert auf dem gleichnamigen, 2012 erschienenen Roman der australischen Autorin Melanie Joosten. Der Krimi um die Gefangenhaltung einer jungen Frau ist spannend inszeniert und ästhetisch niveauvoll umgesetzt, auch wenn der Zuschauer nicht von qualvollen Details verschont bleibt. In der Story kommt eine weitere, tiefer liegende Ebene der Erklärung hinzu. Diese hat etwas mit der DDR-Geschichte zu tun. Clare wird nicht entführt, sondern begibt sich aus einer Faszination für Andi freiwillig in dessen Wohnung. Es ist die gleiche fast naive Anziehung, die auch die DDR-Architektur bei ihren Fototouren auf sie ausübt. Ihrem romantischen Blick auf die DDR am Anfang des Films stehen später die Erfahrungen einer real in einem Kontrollsystem Lebenden gegenüber.

Andi ist wiederum ein Kind der DDR, über die er auch während der Besuche bei seinem Vater (Matthias Habich), einem alten Geschichtsprofessor, diskutiert. Seiner Mutter hat er nie verziehen, daß sie ihn und seinen Vater seinerzeit ohne ein Wort verlassen hat und in den Westen geflohen ist. In seiner einsamen Wohnung hat sich Andi deshalb seine eigene DDR-Utopie geschaffen. Die Einrichtung wirkt nostalgisch, und in dem verlassenen Hinterhof, in den Clare den ganzen Tag schauen kann, während Andi an seiner Schule unterrichtet, scheint die Zeit stehengeblieben. Eine Ausreise ist nicht möglich, und Fluchtversuche werden mit einer Verstärkung der Sicherheitsvorkehrungen beantwortet. Auf diese Weise reagiert Andi mit langer Verzögerung auf die traumatisch erlebte Flucht der eigenen Mutter, die nun in Gestalt einer jungen Touristin ans Bett gefesselt und zugleich zum Objekt einer sexuell aufgeladenen Obsession wird.