© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/17 / 26. Mai 2017

Es fehlt der Widerstand durch Wirklichkeit
Egon Flaig hat eine bemerkenswerte Analyse über die Niederlage der politischen Vernunft vorgelegt
Nicolaus Fest

Anzuzeigen ist ein Werk von höchster Aktualität und stupender Gelehrtheit – und eine Enttäuschung. Es geht um das neue Buch von Egon Flaig, bis 2014 Professor für Alte Geschichte an der Universität Rostock. Flaig stellt die Frage, warum Politik ist, wie sie ist, warum viele Entscheidungen den Wahnwitz streifen und das Gemeinwesen auf den Hund gekommen scheint. Ein Land, das noch vor kurzem als Synonym galt für Effizienz, funktionierende Institutionen und die Herrschaft des Gesetzes, verschleudert innerhalb kurzer Zeit Grundsätze und Ansehen: Grenzen werden rechtswidrig geöffnet, Terroristen mit vielfachen Identitäten reisen ungehindert umher, Verträge werden umstandslos gebrochen. Der Beispiele sind ohne Zahl. Wie konnte dies passieren? 

Für Flaig sind die Fehlentwicklungen der letzten Jahre keine zufälligen Mißgriffe, sondern dem Verlust von Prinzipien geschuldet – Ausdruck einer „Niederlage der politischen Vernunft“. Was also ist „politische Vernunft“, und wie konnte es zu ihrer Niederlage kommen? 

Politische Vernunft bedeutet im Kern die Verteidigung dessen, was wir als Menschenrechte kennen. Denn ohne sie ist das Leben buchstäblich wertlos. Der Mensch möchte leben und frei sein und seine Ansichten ohne Gefahr äußern dürfen. Daraus folgen alle anderen Freiheitsrechte. Garantieren kann diese Rechte aber nur die Politik. Ohne politische keine individuelle Freiheit. Politische Vernunft fragt mithin, wie man Gemeinwesen so austariert, daß sie dauerhaft die individuelle Freiheit sichern. 

Politische Vernunft funktioniert nur unter zwei Voraussetzungen. Zunächst muß man wissen, warum politisch etwas so entschieden werden sollte und nicht anders. Es bedarf also der Urteilskraft, und diese wiederum beruht auf der Kenntnis der Geschichte und politischen Literatur: Was und welche Prinzipien haben sich als sinnvoll und praktikabel erwiesen, wo lauern die Gefahren? Zweitens bedarf es einer unvoreingenommenen Öffentlichkeit, um in öffentlicher Debatte die richtige Antwort zu finden. 

Beides, Urteilskraft wie Öffentlichkeit, ist seit Jahren am Schwinden. Flaig benennt die Ursachen. Es gibt, auch wenn Flaig anders zählt, im wesentlichen drei Formen der Attacke auf die politische Urteilskraft: auf die Geltung der Menschenrechte und die Bedeutung des Individuums; auf die Geschichtlichkeit unseres Urteils; schließlich auf den Staat und seine Institutionen. Hinzu kommen drei Attacken auf den öffentlichen Diskurs. 

Die universale Geltung der Menschenrechte wird vor allem von den Vertretern des Antikolonialismus nach Frantz Fanon geleugnet, zudem von den Kulturrelativisten um Claude Lévi-Strauss. Ebenfalls hierher rechnen die Anhänger des Multikulturalismus oder seines faschistischen Bruders, des Ethnopluralismus nach Alain de Benoist. Gegen die republikanische Idee der Kontrolle staatlicher Gewalt argumentieren die Vertreter einer zynischen Geschichtsphilosophie wie Jean-François Lyotard oder Michel Foucault, gegen die Geschichtlichkeit und kulturelle Verankerung der republikanischen Werte all jene, die Politik als reine Verfahrensfrage begreifen – also die Frankfurter Schule und die Systemtheoretiker nach Niklas Luhmann. Und schließlich leidet die politische Vernunft auch unter der vor allem von der Justiz betriebenen Divinisierung des Individuums, der dauernden Ausweitung seiner Ansprüche und der damit verbundenen Überforderung des Staates. Auch der beständige Vorwurf, der Staat leiste zu wenig, zu selten, zu langsam, unterminiert das Vertrauen seiner Bürger.  

Die Durchschlagkraft eines klaren Appells wäre nötig

Ebenfalls unter Beschuß ist der öffentliche Diskurs. Wo er nicht stattfinden kann, ist politische Urteilsfindung nicht möglich. Dieser Diskurs leidet unter drei Unterstellungen: der Relativierung von wissenschaftlicher Wahrheit als bloße Interpretation (Nietzsche) oder Verschleierung von Machtspielen (Foucault); ihrer Verhinderung durch ideologische Manöver, beispielsweise dem Vorwurf der Diskriminierung; und schließlich durch die Leugnung der Realitäten. Daß aus Syrien nur Frauen und Kinder kämen, nur Facharbeiter oder Flüchtlinge, gehört zu diesen Fällen. „Wenn aber der Widerstand durch Wirklichkeit fehlt“, so Hannah Arendt, „wird prinzipiell alles möglich“ – jede Dummheit und jedes Verbrechen. 

All dies legt Flaig überzeugend dar. Er kennt alle Argumente und auf jedes die richtige Antwort. Und er führt ein großes Plädoyer für den säkularen Staat, der allein die Rechte des Einzelnen garantieren könne. Aber dennoch ist das Buch eine Enttäuschung. Weil es viel mehr sein könnte, ein Bestseller zur geistigen Neugründung der Bundesrepublik. Dafür aber ist es zu kompliziert. Selbst mit robuster humanistischer Bildung und nicht geringen Kenntnissen in Staats- und Rechtsphilosophie ist das Buch schwere Kost. Immer wieder schreibt Flaig mit unerreichter Klarheit, nennt die Verstöße gegen den republikanischen Geist: ob bei der Erinnerungskultur, beim Luftschlag in Kundus, dem „Soldaten sind Mörder“-Urteil des Bundesverfassungsgerichts oder bei der Verdammung von Pegida; aber dennoch bleibt die Struktur des Buches verwirrend. Fast wirken die Kapitel wie eine Sammlung von Aufsätzen, nicht wie ein durchkomponiertes Werk. 

Das mag der Stoffülle geschuldet sein, und auch der ins Auge gefaßten Leserschaft. Die scheint, das lassen die umfangreichen Ausführungen zur Ideengeschichte des Anti-Republikanismus erkennen, eher im akademischen Milieu zu liegen. So mögen die Exkurse zu Habermas, Lyotard, Foucault, Levinas, Schestow und vielen anderen das Werk aus akademischer Sicht unangreifbar machen; doch nehmen sie ihm gleichzeitig die Durchschlagkraft des klaren Appells. Gerade der aber wäre nötig. 

Unbeantwortet bleibt, warum die säkulare Republik bis heute so wenig Verteidiger hat. Die europäische Philosophie, ob Frankfurter Schule, Strukturalismus oder Postmoderne, hat sie fast durchgehend bekämpft und denunziert. Daß nur die Republik diese Kritik überhaupt möglich macht, daß nur sie der Garant des Humanen und des freien Denkens ist, wird dabei verkannt. Denn die Alternativen heißen Kalifat oder Diktatur. 

Egon Flaig: Die Niederlage der politischen Vernunft. Wie wir die Errungenschaften der Aufklärung verspielen. Verlag zu Klampen, Springe 2017, gebunden, 416 Seiten, 24,80 Euro