© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/17 / 02. Juni 2017

Wehrlos in Vielfalt
Lehren aus dem Anschlag von Manchester: Unsere indifferente Gesellschaft wird immer terroranfälliger
Karlheinz Weißmann

Im Dezember 2004 veröffentlichte der Syrer Abu Musab al-Suri ein sechshundert Seiten starkes Handbuch des „globalen islamischen Widerstands“ im Internet. Er galt zu diesem Zeitpunkt schon als wichtiger Theoretiker des „Heiligen Krieges“. Aber nicht nur das. Al-Suri selbst war an einem der ersten islamistischen Anschläge in Europa beteiligt, dem Bombenattentat von 1985 auf ein Restaurant in Madrid, dem achtzehn Menschen zum Opfer fielen. Er gehörte zu den Drahtziehern weiterer Angriffe, verbrachte Jahre im Kampf in Afghanistan und stieg in den Führungszirkel von al-Qaida auf.

Allerdings störte seine Kampfgefährten, daß al-Suri die Organisation nur als eine notwendige Vorstufe des weltweiten Dschihadismus betrachtete und daß es ihm weniger darum ging, wie man den Terrorismus institutionalisieren könnte, eher darum, welche „Methode“ zum Ziel führen werde, nämlich die Vernichtung des Hauptfeindes USA und dann seiner wichtigsten Verbündeten, Israels und der europäischen Staaten. Vor allem müsse es darum gehen, äußerte al-Suri, die „Normalisierung“ im Verhältnis zwischen eingewanderten Muslimen und Gastvölkern zu verhindern. Solange nicht an einen offenen Aufstand in den westlichen Ländern zu denken sei – der bleibe einer späteren Phase vorbehalten –, solle man den Feind durch Einzelaktionen verunsichern und schwächen. Jeder könne zum „Heiligen Krieger“ werden, indem er Ungläubige angreife, insbesondere Juden und Menschen, die durch ihren Lebenswandel das Mißfallen des Frommen erregten.

Der Anschlag in Manchester entspricht genau diesem Konzept. Der Mörder, Kind libyscher Flüchtlinge, lange Jahre offenbar gut integriert, hat das getan, was al-Suri vorgeschlagen hat: radikale Scheidung von denjenigen, denen man Sicherheit, Heim, Bildung, Einkommen verdankt, Aufbau einer Sonderidentität, in der das Selbstbild als „Opfer“ – des Rassismus, der Islamophobie – gekoppelt wird mit einem ausgeprägten Überlegenheitsbewußtsein – als Träger des wahren Glaubens und der großen muslimischen Kultur –, Zellenbildung, Ausnutzen der ethnischen und religiösen Fragmentierung des Landes, in dem man lebt, Einfordern von Loyalität bei den „Gemäßigten“, Beschaffung der Mittel, um irgendeine Art von tödlicher Attacke zu führen.

Die haben die britischen Sicherheitsorgane nicht verhindern können. Ein Tatbestand, der schon deshalb schwer wiegt, weil das Land eines der am stärksten überwachten in Europa ist und einen Geheimdienst hat, der seine Arbeit tun kann. Trotzdem gelingt es den Behörden offenbar nicht, den Terror einzudämmen. Die zweite Alarmstufe gehörte für die Briten längst zum Alltag, die Erhöhung auf das höchste Niveau bis vergangenen Montag war nur etwas auffälliger.

Die Verantwortlichen bekunden ihr Entsetzen über das Geschehen, beschwören Einigkeit und fordern die Bürger auf, Ruhe zu bewahren. Aber es wird immer stärker spürbar, daß diese Appelle an Wirkung verlieren. Denn das, was geschieht, sind keine isolierten Taten verstörter „Extremisten“, sondern Konsequenzen einer gesellschaftlichen Entwicklung, die seit Jahrzehnten abläuft: ungezügelte Einwanderung, wahlweise mit wirtschaftlichen oder humanitären Argumenten gerechtfertigt, Indifferenz gegenüber dem immer „bunter“ werdenden Land, mehr oder weniger hilflose Versuche der Assimilation, dann der Anerkennung von diversity, Vielfältigkeit, als neuem Leitstern von „cool Britannia“, zuletzt das Bemühen, die Zugbrücke hochzuziehen und wenigstens alle Weiterungen aufzuhalten.

Aber selbst wenn das gelingt, sind die bereits bestehenden Probleme alles andere als gelöst. Probleme, die in Großbritannien mit seinen permanenten Rassen- und Glaubenskonflikten längst ein dramatisches Ausmaß erreicht haben. Die Situation in den übrigen europäischen Ländern unterscheidet sich kaum davon. Denn faktisch geht es immer um die Wirkungen ein und derselben Fehlentscheidung. Gemeint ist die fahrlässige Aufgabe eines schwer errungenen und hohen Gutes: der Homogenität des Staatsvolkes. In jahrhundertelangen Auseinandersetzungen, als Ergebnis von Revolutionen und Erziehungsprogrammen, der Erinnerung an gemeinsam bestandene Niederlagen und gemeinsam errungene Siege war erst entstanden, was eine „Nation“ im Vollsinn ausmacht. Diesem größeren Ganzen konnte man im günstigen Fall sogar eine freiheitliche Verfassung geben, weil die vorpolitisch-politische Einheit der Garant für den Zusammenhalt der vielen war. Das hat man in der Nachkriegszeit vergessen, auch vergessen wollen, die Nation als anachronistisch und als Last empfunden und für das Linsengericht des neuen Weltbürgertums, der allgemeinen Verbrüderung im Namen von Fortschritt, ökonomischem Vorteil und grenzenlosem Vergnügen weggeschenkt.

Diejenigen, die vor den Folgen warnten, wurden nicht gehört. Sie hat man verlacht, denunziert, verfemt. Dabei ist es bis heute geblieben. Denn die Politische Klasse liebt keine schlechten Nachrichten, die den Komfort des Machthabens stören. Und viele in ihren Reihen wissen sehr genau, wer für die Misere verantwortlich ist. Immer wieder hat man gegen den erklärten Willen derer, „die schon länger hier leben“ (Angela Merkel), die Grenzen geöffnet, die Fremden geholt, in bezug auf die Folgen beschwichtigt und getäuscht und zuletzt die wahnwitzige Vorstellung in Umlauf gebracht, daß sich die Lage von selbst stabilisieren werde, wenn man den Zerstörungsprozeß mit aller Kraft und bis zur letzten Konsequenz vorantreibt. Die Etablierten sind es, die ein elementares Interesse daran haben, daß wir alle brav „den Blick nach vorn richten“ und niemand die Fragen stellt, die unbedingt gestellt werden müssen, bevor überhaupt daran zu denken ist, etwas zu ändern: Wie konnte es so weit kommen? Wer trägt die Verantwortung? Welche Strafe hat er verdient?