© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/17 / 02. Juni 2017

„Der Zusammenbruch des Westens“
Die westlichen Armeen sind die stärksten der Geschichte. Dennoch haben sie seit Jahrzehnten fast jeden Konflikt verloren. Wie kann das sein? Der israelische Militärhistoriker Martin van Creveld analysiert in seinem neuen Buch die bedrohlichen Ursachen
Moritz Schwarz

Herr Professor van Creveld, warum wird der Westen immer wieder besiegt?

Martin van Creveld: Das ist die Frage, die mich in den letzten Jahren mehr und mehr beschäftigt hat. 

Der Westen verfügt über die größte Militärmacht der Menschheitsgeschichte, eigentlich müßten wir unbesiegbar sein.

Creveld: Eben, das stimmt. Aber die Fakten sprechen doch für sich, oder? 

Könnte es nicht sein, daß wir zuletzt einfach nur kein Kriegsglück hatten?

Creveld: Lassen Sie mich den erfahrenen General Moltke zitieren: „Glück auf Dauer hat nur der Tüchtige.“ Es ist wie Sie sagen: Die westlichen Armeen sind tatsächlich die reichsten, stärksten, am besten ausgerüsteten und ausgebildeten der Geschichte. Und dennoch haben sie in den letzten Dekaden fast immer verloren. Wie kann das sein?

Wie kann das sein?

Creveld: Ich habe dafür bei meinen Studien mehrere Antworten gefunden: Erstens, aufgrund der Art und Weise, wie wir Menschen des Westens unsere Kinder erziehen, sie gegen jede potentielle Gefahr beschützen, sie davon abhalten, erwachsen zu werden und sie zu unselbständigen Wesen erziehen. Zweitens, aufgrund der Art und Weise, wie wir das gleiche mit unseren Armeen tun. In den meisten europäischen Ländern, Deutschland ausdrücklich eingeschlossen, ist der Begriff Militarismus in der Bedeutung eines gesunden Stolzes des Soldaten auf seinen Berufsstand, zu einem Tabu geworden. Drittens, aufgrund der Art und Weise, wie Frauen ins Militär aufgenommen werden, was Ausbildung und Training oftmals zu einem Witz macht und Situationen schafft, in denen männliche Soldaten mehr Angst davor haben, fälschlicherweise wegen sexueller Belästigung beschuldigt zu werden, als vor dem Feind. Viertens, aufgrund der Art und Weise, wie Posttraumatische Belastungsstörungen nicht nur toleriert, sondern unterstützt, ja erzwungen werden. Fünftens, wegen der verbreiteten Vorstellung, daß Krieg das größte aller Übel sei und es nichts mehr gebe, das es wert sei, dafür zu sterben. 

Allerdings gibt es Gegenbeispiele: Falkland 1982, Irak 1991 und die Kriege Israels. Wie passen diese in die Theorie, die Sie in Ihrem neuen Buch „Wir Weicheier. Warum wir uns nicht mehr wehren können und was dagegen zu tun ist“ von der verlorenen Kampfkraft des Westens aufstellen?

Creveld: Der Falklandfeldzug war ein konventioneller Krieg, der von zwei westlichen Mächten unter sich ausgefochten wurde. Und Israel war daran gewöhnt, eine Ausnahme zu sein – bis die Leistung seiner Truppen während des zweiten Libanonkriegs 2006 anderes erkennen ließ. Was den Golfkrieg von 1991 angeht – tja. Doch dieser Krieg war ein konventioneller Krieg, der sich sehr wahrscheinlich nicht wiederholen wird.

Was genau haben die Amerikaner 1991 im Irak und die Israeli in den vier Kriegen von 1947 bis 1973 richtig gemacht, und kann der Westen daraus etwas lernen, um seine „Weichei“-Krise zu überwinden?

Creveld: Noch einmal: Ja, es gab eine Zeit, in der die israelische Armee tatsächlich eine Streitmacht war, die der Welt Bewunderung abnötigte. Doch das ist, wie die von Ihnen genannten Jahreszahlen zeigen, schon lange her. Denn seit dem Einmarsch in den Libanon 1982 haben die Israelis in keinem einzigen Fall mehr ihr militärisches Ziel erreicht. Nicht im zweiten Libanonkrieg 2006, nicht bei all ihren Angriffen im Gaza-Streifen. Derzeit ist alles, was ihre „Kämpfer“ können, eine fünfzigjährige Palästinenserin und elffache Mutter, die mit einem Messer in der Hand auf sie zugekommen ist, niederzuschießen. Sollte Israel jemals wieder von einem echten Feind angegriffen werden, so ist der Offensive von 2006 nach zu urteilen tatsächlich zu erwarten, daß seine Truppen Fersengeld geben werden.

Sie sagen, unsere Erziehung zum „Weichei“ beginne bereits in der Jugend. Ist das Folge eines Fehlers, den unsere Gesellschaften machen, oder zwangsläufige Folge unseres hohen zivilisatorischen Standards?

Creveld: Ich bin mir nicht sicher, ob ich unsere eigene Zivilisation als hochstehend bezeichnen würde. Aber ja, offenbar folgen wir dem Vorbild vieler früherer Kulturen, wie sie von Leuten wie dem antiken griechischen Historiker Polybius, dem arabischen Historiker aus dem Mittelalter, Ibn Chaldun, sowie den Philosophen des 20. Jahrhunderts Oswald Spengler und Arnold Toynbee untersucht wurden. Die entscheidenden Faktoren sind stets die gleichen: Übermäßiger materieller Wohlstand, der zu weniger strengen Sitten sowohl in geistiger als auch in körperlicher Hinsicht führt; eine wachsende Kluft zwischen Reich und Arm (die Reichen, sagt der römische Dichter Lukian, werden alles tun, um ihre Auftraggeber zu versorgen und ihre Gefolgschaft zu erhalten, während die Armen alles tun werden, um am Leben zu bleiben); der zunehmende Widerwille, Wehrdienst zu leisten, sowie eine Vorliebe für Söldner – zunächst sind es Einheimische und sobald diese Quelle versiegt, auch Ausländer; sowie eine Regierung, die massiv von Frauen beeinflußt wird und somit auf Sicherheit, Luxus und Komfort hin ausgerichtet ist. Andere Faktoren sind eine übermäßige politische Zentralisierung, die mit überzogener Bürokratisierung einhergeht; eine Akzentverschiebung von „harter“ zu „weicher“ Macht sowie der sogenannte „Imperial overstretch“, die „imperiale Überdehnung“. Letzteres bezieht sich auf die Art und Weise, wie Verteidigungsverpflichtungen zunehmend dazu neigen, über die verfügbaren Mittel hinauszuwachsen. Resultat sind Haushaltsdefizit, Inflation, Entwertung und so weiter in einem Teufelskreis, der abwärts führt. Sicher, es gibt von Land zu Land Unterschiede. Doch im großen und ganzen ist es dieser Prozeß der Rom, Byzanz, das frühneuzeitliche Spanien, Frankreich und Großbritannien ebenso wie die Sowjetunion zu Fall brachte. Ein Freund von mir pflegt zu sagen: „Alle hielten sich für außergewöhnlich. Bis sie es, oft plötzlich, nicht mehr waren.“ Präsident Trump scheint zu meinen, daß nun auch die USA im Fallen begriffen sind. Wie lassen sich sonst seine hektischen, fast verzweifelt wirkenden Bemühungen erklären, sie zu retten und wieder „groß“ zu machen?

Als zentral für die „Weichei“-Krise beschreiben Sie in Ihrem Buch auch die Umdeutung der Begriffe Mut, Gewalt und Opfer. Was steckt dahinter und warum wirkt deren Umdeutung so verheerend?

Creveld: Die Sprache ermöglicht uns, in die Seele der Menschen, die sie benutzen, zu schauen. Daher habe ich für  meine Nachforschungen die Suchmaschine „Google Ngram Viewer“ verwendet, was ich im Buch darstelle, um zu zeigen, daß im Westen ein Begriff wie „Rechte“ schon lange die „Pflicht“ überflügelt hat. Krieg jedoch war schon immer in erster Linie eine Frage der Pflicht­erfüllung – und wird es auch bleiben.

Aus der Verehrung des Soldaten früher, sagen Sie, ist heute dessen Demütigung geworden. Gehen Sie da nicht zu weit?

Creveld: Lassen Sie mich über Israel sprechen: Wenn ich heute Studenten erzähle, daß die Wände hier vor Jahren mit Graffiti überzogen waren, auf denen stand: „Alle Ehre für Zahal!“ – das ist die israelische Verteidigungsarmee –, will mir das keiner mehr glauben. Was die Lage in Europa betrifft, können Sie das sicher besser beurteilen als ich. Es ist jedoch schon lange her, daß ich einen deutschen Soldaten – oder sogar einen Offizier – gesehen habe, der außerhalb des Dienstes die Uniform getragen hat.

Der „Verweiblichung der Streitkräfte“ haben Sie bereits 2001 Ihre Studie „Frauen und Krieg“ gewidmet. Warum ist diese ein Problem?

Creveld: In den USA etwa wird auf Anordnung des früheren Vorsitzenden des Vereinigten Generalstabs, General Martin Dempsey, nur noch solches militärisches Training zugelassen, das auch von Frauen erfolgreich absolviert werden kann. Oder: Sowohl in den USA als auch in Großbritannien sind Kommandeure angewiesen worden, Bereitschaftsdienst gegen „Stillzeit“ auszugleichen. Ich glaube, diese Beispiele sprechen für sich.

Widerspricht Ihre Verweiblichungsthese nicht der von Ihnen selbst festgestellten Tatsache, daß in den eigentlichen Kampfeinheiten so gut wie keine Frauen dienen?

Creveld: Nein. Der Einfluß von Frauen macht sich überall in den Streitkräften bemerkbar. Insbesondere in dem Sinne, daß sie ungeheuer viele Privilegien genießen, die Männer nicht haben und damit Anlaß zu Unmut geben. Am schlimmsten ist, daß jeder, der es wagt, in dieser Frage den Mund aufzumachen, sehr schnell arbeitslos werden kann. So betrachtet ist das gesamte westliche Militär doch auf einer Lüge aufgebaut! Und ein Haus, das auf einer Lüge gebaut ist, wird nicht standhalten.

Der Krieg gilt im Westen als moralisch delegitimiert. Ist das nicht eine gute Sache?

Creveld: Hätte Präsident Lincoln den Weiterbestand der Sklaverei zulassen sollen? Oder hätten Frankreich und Großbritannien Adolf Hitler 1939 das tun lassen sollen, was ihm beliebte? Oder hätte Israel 1967 seine Bevölkerung von den arabischen Armeen niedermetzeln lassen sollen? Ich frage Sie, gibt es nicht einige Dinge, die schlimmer sind als Krieg?

Der Soziologe Gunnar Heinsohn macht für die Zahmheit des Westens die Demographie verantwortlich: Gesellschaften mit einem Überschuß junger Männer – dem „Youth bulge“ – erweisen sich oft als aggressiv, während jene mit wenigen jungen Männern (wie im Westen) friedlicher sind. Widerspricht das nicht Ihrem Ansatz?

Creveld: Ganz und gar nicht. Wir vertreten ähnliche Ansichten. Zudem stammen sie nicht einmal von uns. Ich nenne erneut Polybius: „Die Männer“, schrieb er mit Blick auf seine Heimat Griechenland, „wandten sich der Arroganz, Habgier und der Trägheit zu [und] wollten nicht heiraten. Und heirateten sie doch, wollten sie keine Kinder großziehen – außer ein oder zwei höchstens.“

Aus europäischer Sicht sind allerdings in den USA die Erziehung zu Patriotismus und zur militärischen Opferbereitschaft fürs Vaterland noch intakt. 

Creveld: Alles ist relativ, oder? Zudem schicken gebildete Oberschichtamerikaner ihre Söhne, geschweige denn ihre Töchter, wie ihre europäischen Pendants auch, nicht mehr zur Armee.

Warum spielen die von Ihnen diagnostizierten Degenerationserscheinungen überhaupt eine Rolle? Heute kämpft sowieso nur ein kleiner Teil der Soldaten unmittelbar. Und diese paar tausend „Frontschweine“ müßten sich doch problemlos unter den Millionen Westlern rekrutieren lassen.

Creveld: Theoretisch haben Sie recht. In der Praxis ist die Situation so schlimm, daß viele westliche Länder, inklusive der USA, gezwungen sind, ausländische Söldner anzuheuern. Ich erinnere mich noch gut an eine US-Militärparty, die ich vor Jahren hier in Israel besucht habe. Jeder US-Soldat dort war Latino und hatte einen spanischen Namen.

Warum spielen Einsatzbereitschaft und Motivation angesichts unserer überlegenen Militärtechnologie überhaupt noch eine Rolle? Macht unser enormer Technikvorsprung diesen Faktor nicht irrelevant?

Creveld: Das führt uns zum Ausgangspunkt zurück: Ist die unendlich lange Liste an Niederlagen, die der Westen zumindest seit 1953 erlitten hat, nicht der Beweis für das Gegenteil?

Sind also Armeen aus Söldnern, die noch militärischen Biß haben, die Lösung?

Creveld: Soweit ist es bereits. 2003 wurde zum ersten Mal ein hoher Anteil der US-Streitkräfte im Nahen Osten als Söldner in aller Welt geworben. Aber ob das nun die Lösung ist, ist eine andere Frage. Wahrscheinlicher ist, daß es damit endet, daß diese sich irgendwann selbständig machen werden, wie es bei den spätmittelalterlichen italienischen Condottieri der Fall war.

Was droht uns, ignorieren wir die von Ihnen beschriebenen Gefahren weiterhin?

Creveld: Zunächst ein Bürgerkrieg, dessen frühe Anzeichen in Europa bereits zu erkennen sind – und dann der Zusammenbruch des Westens. 






Prof. Dr. Martin van Creveld, gilt als einer der „renommiertesten Militärhistoriker der Gegenwart“ (Welt) und „führenden Experten weltweit“ (The Guardian), dessen „originelle“ (New York Times) Bücher „gewinnbringend ausgetretene Pfade verlassen“ (Herfried Münkler) und als einzige eines Nichtamerikaners in die Leseliste für US-Offiziere aufgenommen wurden. Internationale Bekanntheit erlangte er 1991 mit seinem Buch „The Transformation of War“ („Die Zukunft des Krieges“). Darin nahm er die Formen des Krieges vorweg, mit denen sich der Westen seit dem 11. September 2001 konfrontiert sieht. Van Creveld beriet die Streitkräfte verschiedener Nationen, darunter auch das Pentagon. Nun ist sein neues Buch „Wir Weicheier. Warum wir uns nicht mehr wehren können und was dagegen zu tun ist“ erschienen. Geboren wurde der Israeli 1946 in Rotterdam. Er lehrte an den Universitäten Jerusalem und Tel Aviv.  

Foto: Selbstmordanschlag auf Isaf-Soldaten in Kabul, Afghanistan: „Wir halten unsere Kinder davon ab, erwachsen zu werden ... Und das gleiche tun wir mit unseren Armeen.“

 

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