© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/17 / 02. Juni 2017

Zwischen Terror und Wahlkampf
Großbritannien: Die vorgezogene Unterhauswahl wird vom Selbstmordanschlag in Manchester überschattet
Daniel Körtel

Knapp drei Wochen vor der Neuwahl des britischen Unterhauses wird Großbritannien von einem islamistischen Terroranschlag in Manchester heimgesucht. Die Bluttat zeigt die nach wie vor durch islamistischen Terror gefährdete innere Sicherheit des Landes. Doch auch die Einheit des Vereinigten Königreiches steht zur Disposition, denn das unerwartete Ergebnis des Referendums über die Mitgliedschaft zur EU im Juni 2016 hat in Großbritannien eine gewaltige Dynamik in der innenpolitischen Tektonik freigesetzt. Erstmals sieht die Republik Irland eine reale Chance auf die Wiedervereinigung mit der britischen Provinz Nordirland, wo eine Mehrheit der Wähler für den Verbleib in der EU stimmte. Ebenso hofft Schottland auf eine Wiederholung des 2014 gescheiterten Referendums über seine Unabhängigkeit, sollte der von ihnen gleichfalls abgelehnte „Brexit“ in aller Härte vollzogen werden.

Die Kleinstadt Berwick-upon-Tweed ist die nordöstlichste Ecke Englands, eine Ausbuchtung über der Mündung des Grenzflusses Tweed in die Nordsee. Einst die bedeutendste Stadt Schottlands, ist sie nach einer wechselvollen Geschichte seit 1482 in englischem Besitz. Ihre überaus große mittelalterliche Stadtmauer unterstreicht die strategisch bedeutende Position, die die Stadt einst einnahm. Auf ihren imposanten Resten steht der Historiker Derek Sharman, der mit der Geschichte Berwicks bestens vertraut ist. Mit dem Finger zeigt er in nördlicher Richtung über einen rapsbewachsenen Hügel, dort wo wenige Kilometer vor der Stadt Schottland beginnt, und damit „eine andere Welt“. Erfolge würden von der in Edinburgh regierenden Schottischen Nationalpartei der guten Selbstverwaltung zugeschrieben. Für die Mißerfolge werde London die Schuld zugeschoben. Doch als besondere Ironie des schottischen Unabhängigkeitsstrebens hebt Sharman heraus, daß Schottland sich von Großbritannien lösen wolle, um als Mitglied der EU unter Kontrolle Brüssels zu stehen.

Die Zustimmung zum Austritt aus der EU ist auch in Berwick hoch ausgefallen, so wie im Rest der Grafschaft Northumberland, zu der die Stadt gehört. Angesprochen auf den Brexit, wird der betont vornehm und zurückhaltend auftretende Sharman entschieden: „Wir sind keine Anti-Europäer! Wir sind nicht im Streit mit Deutschen, Franzosen oder anderen in Europa.“ Die Briten wollten, daß in ihrem eigenen Parlament über ihre Angelegenheiten entschieden wird, und nicht in Brüssel. Sharman stimmt zu, daß letztlich die chaotische Flüchtlingskrise vom Herbst 2015 durch die von der deutschen Bundeskanzlerin veranlaßte Grenzöffnung den Ausschlag für den knappen Ausgang des EU-Referendums gab. Gelassen und optimistisch sieht Sharman in eine Zukunft nach dem Brexit, in dem Großbritannien die ganze Welt offensteht und nicht nur die EU.

May oder Corbyn – wer wird den Brexit aushandeln?

Theresa May, die als Innenministerin kurz nach dem EU-Referendum Nachfolgerin des zurückgetretenen Premiers David Cameron wurde, schloß zuerst eine Neuwahl des Parlaments aus. Doch die Belastung der Austrittsverhandlungen mit Brüssel durch die knappe Mehrheit ihrer konservativen Tories im Westminster-Parlament und die zeitliche Nähe der nächsten regulären Wahl 2020 im Blick, setzte sie überraschend im April für den 8. Juni Neuwahlen an.

Für May lief es gut. Meinungsumfragen sagten im April einen Erdrutschsieg der konservativen Tories gegenüber der sozialdemokratischen Labour Party mit ihrem unbeliebten Vorsitzenden, dem Linksaußen Jeremy Corbyn, voraus. Das Labour-Manifest mit seinen Vorschlägen über Verstaatlichungen erinnert an die chaotischen 1970er. Die Liberaldemokraten haben sich mit dem Versprechen eines Rückzugs vom Brexit selbst an den Rand gedrängt. Und die EU-Austrittspartei Ukip hat nach dem Referendum ihren charismatischen Anführer Nigel Farage und ihr eigentliches Thema verloren. Alles spitzte sich im Wahlkampf auf die Frage zu, wem die Wähler zutrauen, mit Brüssel den besseren Brexit-Deal auszuhandeln, May oder Corbyn.

Doch dann unterlief May ein schwerer taktischer Fehler. Kurz nach Verkündigung des Wahlmanifestes ihrer Partei vollzog sie in der Finanzierung der häuslichen Altenpflege eine vollständige Kehrtwende. Sahen die Vorschläge zuerst die vollständige Finanzierung durch die Betroffenen vor, verkündete sie nach einsetzender Kritik nach nur vier Tagen eine noch unbezifferte Deckelung der Beträge. Damit litt ihr Ruf als „starke und feste Persönlichkeit“. Labour witterte Morgenluft, der Abstand beider Kontrahenten zueinander schmolz ab.

Doch seit der Montagnacht von vergangener Woche steht mit dem islamistischen Selbstmordanschlag im mittelenglischen Manchester die britische Politik in einer neuen Situation. Ausgerechnet in dem Land, das seinen libyschen Eltern Schutz vor Gaddafi bot, tötete Salman Abedi 22 Besucher eines Popkonzertes, darunter viele Kinder. Der 22jährige Abedi wurde in Manchester in eine Familie mit islamistischen Verbindungen geboren. Es liegen Hinweise vor, daß der den Sicherheitsbehörden bekannte Attentäter Teil eines Netzwerkes war. Bislang wurden 14 Personen im Zusammenhang mt dem Anschlag festgenommen. Seiner Schwester zufolge motivierten ihn „Liebe zum Islam“ und Rache für amerikanische Luftschläge auf muslimische Kinder in Syrien. Abedi flog kurz vorher aus Libyen, wo er sich als Kämpfer aufhielt, über Istanbul und Düsseldorf nach Manchester ein. Dschihadistische Heimkehrer aus Libyen bevorzugen oft den Umweg über Düsseldorf, da der Flughafen dort im Ruf steht, die Paßkontrolle sehr schnell abzuarbeiten.

Den Sicherheitsbehörden wurde Abedi bereits als 17jähriger gemeldet, als er islamistische Gewalt pries. Dennoch kam er mangels Ressourcen nicht in die Dauerüberwachung. Doch ungeachtet aller Sicherheitsmaßnahmen sieht der britische Geheimdienstexperte Christopher Lee ein tieferes Problem in dem Typus des islamischen „homegrown terrorist“, für den Abedi steht, und der aufgrund von Identitätsproblemen nie in der westlichen Gesellschaft angekommen ist.

„Home-grown“-Terrorist ist nie im Westen angekommen.

In Abgrenzung zu May, die den Terroranschlag eine „krankhaft feige Tat“ nannte, versuchte sich Corbyn in einem gewagten Spagat. Einerseits verurteilte er die Tat. Gleichzeitig sieht er einen Zusammenhang zu den Auslandseinsätzen seines Landes im „Krieg gegen den Terror“. Corbyn weckte damit ungute Erinnerungen an seine ambivalente Haltung zu Terrororganisationen wie der IRA, Hamas und Hisbollah. Das mediale Echo war verheerend: „Wie konnte so ein unerfahrener, extremer, obskurer Hinterbänkler Anführer der Opposition werden?“ fragte beispielsweise entgeistert der Daily Telegraph. Somit könnte in den letzten Tagen vor der Wahl der islamische Extremismus doch noch zu einem Kernthema werden. Damit ist der Wahlkampf wieder beim Brexit angelangt, der von Immigration, Terrorismus und Grenzkontrollen nicht zu trennen ist. Die Erwartung liegt nahe, daß die britischen Wähler sich sehr gut daran erinnern, wie die EU Cameron ausbremste, als dieser vor dem EU-Referendum letztlich erfolglos Verbesserungen mit Brüssel auszuhandeln suchte.