© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/17 / 02. Juni 2017

Die deutschen Sparer zahlen die Zeche
EZB-Zinspolitik: Bisherige Nettoverluste summieren sich auf 200 Milliarden Euro / Rückkehr der Inflation
Dirk Meyer

Eine Zinswende ist in Europa nicht in Sicht. Die Europäische Zentralbank (EZB) will die Leitzinsen weiterhin „für längere Zeit und weit über den Zeithorizont des Nettoerwerbs von Vermögenswerten hinaus auf dem aktuellen oder einem niedrigeren Niveau“ halten, so ihr Chef Maro Draghi. Sprich: die Niedrig- bzw. Negativzinsphase hält an – mit verheerenden Folgen.

Eine Studie der DZ-Bank, dem Zentralinstitut des genossenschaftlichen Finanzsektors, belegt das nun mit konkreten Zahlen: Zwischen 2010 und 2016 errechnen die Autoren Zinseinbußen der privaten Haushalte von fast 345 Milliarden Euro. Allerdings sanken die Hypothekenzinsen, Konsumkredite verbilligten sich. Baugeld gab es für unter ein Prozent und Handelshäuser werben mit einem Nullzins. Berücksichtigt man deshalb Zinsersparnisse von 145 Milliarden Euro, so belaufen sich die Nettoverluste auf rund 200 Milliarden Euro.

Das sind 2.440 Euro pro Bürger – Tendenz steigend. Aktuell werden für 2017 ein Zinsverlust von 92 Milliarden Euro und eine Kreditkostenersparnis von 43 Milliarden Euro erwartet. Per Saldo ergibt dies ein Minus von 49 Milliarden bzw. weiteren 600 Euro pro Person. Für die Jahre 2011 bis 2013 lag die Nominalverzinsung aller Bankeinlagen, Rentenpapiere und Versicherungen nach Abzug von Steuern und Kosten unterhalb der Inflationsrate. Dieses Jahr dürfte der Realzins bei minus 0,8, nach Steuern bei minus 1,4 Prozent liegen.

Vermögenswertverlusten von 37 Milliarden Euro stehen jedoch Aktienkursgewinne und steigende Immobilienwerte in schwer zu bezifferndem Umfang gegenüber. Klar treten die Umverteilungswirkungen hervor: Schuldner zahlen weniger Zinsen, und bei Inflation sinkt der Realwert ihrer Kredite. Aktienbesitzer und Immobilieneigentümer profitieren von steigenden Vermögenswerten. Schlecht steht es hingegen um Sparer, Neukunden von Lebensversicherern sowie den Arbeitnehmer mit einer kapitalgedeckten Pensionszusage.

Generell tritt eine Entlastung der Steuerzahler ein, die von den geringen Zinslasten der Staatsverschuldung profitieren. Trotz eines Anstiegs der deutschen Staatsschulden von 1.660 Milliarden Euro (2008) auf 2.140 Milliarden Euro (2016), sank die Zinslast um ein gutes Drittel auf 43 Milliarden Euro.

Wie haben die privaten Haushalte reagiert? Entgegen den Erwartungen ist der Anteil der Ersparnisse an ihrem verfügbaren Einkommen in den Jahren 2014 bis 2016 um 0,8 Prozentpunkte auf 9,7 Prozent gestiegen. Um ihre Geldvermögensbildung stabil zu halten, haben die Haushalte den Zinsrückgang durch eine stärkere Ersparnis aus dem laufenden Einkommen ausgeglichen.

Infolge einer Kombination von niedrigen Zinsen und traditioneller Risikoscheu wurde zudem umgeschichtet. Der Anteil der täglich fälligen Einlagen (Giro-/Tagesgeld) an den gesamten Bankeinlagen stieg von 31 (2003) auf 58 Prozent (2016). Dies ist etwa ein Fünftel des gesamten Geldvermögens. Eine Bewertung als „gigantischer Geld­anlagestau“ (DZ-Studie) wäre jedoch zu einseitig, denn die EZB dürfte mit ihrer „außergewöhnlichen Geldpolitik“ eine Vermögenspreisinflation ausgelöst haben, die wenig nachhaltig sein wird.

Ein negativer Realzins ist keinesfalls ungewöhnlich

So stieg der Aktienindex Dax seit 2012 um 115 Prozent, und die Immobilienpreise haben 2016 um 6,6 Prozent angezogen – in Großstädten deutlich zweistellig. Von daher könnte es durchaus opportun sein, das „Pulver trocken zu halten“, um der Gefahr von platzenden Finanzblasen aus dem Wege zu gehen. Auch handelten die Kreditnehmer vorausschauend, indem sie durch eine längere Kreditlaufzeit zukünftigen Zinsänderungsrisiken vorgebeugt haben.

Diskutabel an den DZ-Berechnungen ist der Referenzzins, anhand dessen die Autoren die Zinsverluste bemessen. Hierzu ziehen sie die Periode 1998 bis 2009 heran, die sie als Normalzinsphase frei von besonderen Inflationsereignissen und Krisen bewerten. Auch ist ein negativer Realzins keinesfalls ungewöhnlich. Nach Abzug der Inflation von sechs Prozent lag die reale Rendite für zehnjährige Staatsanleihen 1975 bei minus fünf Prozent und bei Spareinlagen bei minus 2,5 Prozent. Nach einer Analyse des US-Finanzsenders Bloomberg waren die realen Zinserträge für deutsche Sparvermögen der vergangenen 48 Jahre in 309 Monaten negativ, in 58 Monaten bei null und nur in 209 Monaten positiv. Bei einem durchschnittlichen Realzins von minus 0,16 Prozent verloren die Sparer demnach Geld in dieser Zeit.

Also alles wie gewohnt? Nein, denn die niedrigen Realzinsen werden nicht nur von einem erhöhten Sparkapital alternder Gesellschaften (Sparschwemme/„Savings glut“), niedriger Produktivität, hohen Reallöhnen und Steuersätzen bestimmt. Vielmehr drückt die auf die Euro-Krisenstaaten ausgerichtete Geldpolitik der EZB die Zinsen. Und der in den USA bereits eingeleiteten Zinswende wird sich die EZB dauerhaft nicht verschließen können.

Die Risiken hierbei sind erheblich: Eine abrupte Neubewertung von Aktien und Immobilien kann Instabilitäten durch fallende Vermögenspreise auslösen, die die Realwirtschaft mit erfassen dürften. Lebensversicherungen geraten erneut unter Druck, denn die Niedrigzinsanleihen bringen keinen Marktzins, und ein Verkauf vor Fälligkeit führt zu Verlusten. Die durch die geringen Zins­erträge, hohen IT-Investitionen und Regulierungskosten bereits ausgezehrten Banken könnten in Existenznot geraten.

Sie haben Kredite zu Niedrigzinsen langfristig vergeben und diese mit kurzfristigen Kundeneinlagen finanziert. Gerät die kurzfristige Refinanzierung bei steigenden Marktzinsen unter Druck, sind Verluste, Liquiditätsprobleme und eine Bankenkrise vorprogrammiert. Nicht zuletzt dürften die Krisenstaaten, voran Italien, durch steigende Zinslasten das gesamte Eurosystem erneut ins Wanken bringen. 

DZ-Bank-Studie „Weiter wachsende Zinseinbußen privater Haushalte in Deutschland“: www.dzbank.de






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.