© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/17 / 02. Juni 2017

Auf dem Rückzug
Kulturkampf: Zum Streit um das christliche Kreuz im öffentlichen Raum
Michael Paulwitz

Das christliche Kreuz ist eines der wirkmächtigsten Markenzeichen der Weltgeschichte. Wo es errichtet wird, beinhaltet es immer auch ein Bekenntnis: wenn schon nicht zum persönlichen Glauben dessen, der es der Öffentlichkeit präsentiert, so doch zur Akzeptanz der geistigen, ethischen und kulturellen Grundlagen, auf denen unser Gemeinwesen steht. 

Über die größte Strecke deutscher und europäischer Geschichte, auf die dieses Gemeinwesen zurückblicken kann, war der Anblick von Kreuzen jeder Größe im öffentlichen Raum unhinterfragte Selbstverständlichkeit – als Zeichen kirchlicher Macht und herrscherlicher Legitimation wie als Ausdruck bürgerlicher oder privater Selbstvergewisserung. 

Das hat unseren Kulturraum bleibend geprägt. Aufklärung und Säkularisierung und die neuzeitliche Errungenschaft der grundsätzlichen Trennung von Staat und Religion haben diese Prägung nicht aufgehoben, denn sie stehen selbst, auch und gerade in Abgrenzung und Negation, in dieser Tradition. Christliche Überlieferungen prägen Stadtbilder und Rechtssystem, Wertvorstellungen, Sprache, Literatur und Kulturlandschaft. Sie sind mithin Teil unserer Identität, unserer „Leitkultur“.

Das verleiht dem Kulturkampf ums Kreuz, der in der Hauptstadt neu entbrannt ist, seine besondere Brisanz. Zwei zeitlich nahe zusammenliegende Fälle befeuern die Debatte: Daß die wiedererrichtete Kuppel des Stadtschlosses wie vor der Zerstörung wieder von einem Kreuz gekrönt werden soll, löst bei rot-grünen Politikern allergische Reaktionen aus – „staatliche Bauten“, die „nicht der Religionsausübung dienen“, sollten kein Kreuz tragen, meint Linken-Kultursenator Klaus Lederer, sekundiert vom Regierenden Bürgermeister Michael Müller.

Der zweite Kampfplatz: Bereits im Januar war einer Neuköllner Lehrerin auf der Grundlage des Berliner „Neutralitätsgesetzes“ das Tragen eines nicht einmal drei Zentimeter großen Kreuz-Anhängers untersagt worden, obwohl sich bis dato weder Schüler noch Eltern beschwert hatten. Im Mai wurde die Lehrerin zudem zum Gespräch vorgeladen, weil sie statt dessen einen noch kleineren Fisch-Anhänger trage, der als frühchristliches Symbol gedeutet wurde.

Die Debatte um Kreuze in Schulklassenzimmern und Gerichtssälen beschäftigt die Republik seit drei Jahrzehnten. 1985 hatte ein konfessionsloser Vater gegen Schulkreuze in Bayern geklagt und zehn Jahre später das „Kruzifix-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts erstritten, gegen das damals noch Zehntausende in Bayern auf die Straße gingen. Für verfassungswidrig hatte Karlsruhe allerdings nur die obligatorische Ausstattung der Klassenzimmer mit Kreuzen erklärt. Die bayerische Lösung war die Ergänzung der Schulordnung um eine „Widerspruchsklausel“ – nur bei Vorbringen „ernsthafter Gründe“ durch Eltern oder Lehrer solle das Kreuz abgehängt werden.

Der Streit hat europäische Dimensionen. In Italien war ein Erziehungsberechtigter mit ähnlichen Argumenten gegen das Kreuz im Klassenzimmer durch alle Instanzen gezogen und hatte schließlich vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) 2009 Recht bekommen: Das Kreuz im Klassenzimmer schränke Erziehungsrechte und Religionsfreiheit ein. Zwei Jahre später wurde das Urteil nach einer Welle der Empörung revidiert.

Erledigt war der Streit damit nicht. Der damalige EU-Parlamentspräsident Martin Schulz wärmte ihn im Europawahlkampf 2014 wieder auf: Öffentliche Räume müßten „neutral“ sein, im Interesse der „Nichtdiskriminierung“ hätten die Kreuze daraus entfernt zu werden, und überhaupt drohe mit öffentlichen Kreuzen das „Risiko einer sehr konservativen Bewegung“.

Der Kulturkampf ums Kreuz war da aber schon längst nicht mehr nur eine innereuropäische Angelegenheit zwischen Linken und Konservativen, Atheisten und kirchlich Gebundenen. Jahrzehntelange muslimische Einwanderung hat neue Akteure geschaffen: fundamentalistische Islamverbände, die die Freiräume der laizistischen, weltanschauliche Neutralität hochhaltenden europäischen Rechtssysteme für die Ausbreitung und öffentlich sichtbare Verankerung ihrer eigenen Weltanschauung zu nutzen gedachten.

Daß auf das „Kruzifix-Urteil“ Ende der neunziger Jahre der „Kopftuchstreit“ mit der von einflußreichen Islamverbänden vorangetriebenen Musterklage der afghanischen Referendarin Fereshta Ludin folgte, ist zweifellos kein Zufall. Fortschreitende Säkularisierung und Werterelativismus öffnen eine Lücke, die einlädt, sie mit anderen weltanschaulichen Inhalten zu füllen.

Der Streit um das Kreuz im öffentlichen Raum ist seither eng mit der Frage verknüpft, wie weitgehend man das Vorrücken islamischer Symbole in diesen Raum zulassen will. Anders als die auch höchstrichterlich als „passive“ Symbole eingestuften Kruzifixe oder persönliche Kreuzanhänger haben Kopftuch und islamische Verhüllung durchaus missionarischen Charakter: Sie stehen für Abgrenzung und Überlegenheitsgefühl und entfalten durch die Vorbildfunktion von Lehrerinnen für – muslimische – Schülerinnen durchaus sozialen Gruppendruck.

Die eigenen Identitätssymbole zurückzunehmen, um die Ausbreitung muslimischer Symbole einzudämmen, ist freilich eine faule Scheinlösung. Zumal auch ohne juristischen Zwang die christlichen Kreuze aus Klassenzimmern und Gerichtssälen in vorauseilender Korrektheit weitgehend verschwunden sind.

Im Münchner NSU-Prozeß drangen türkische Nebenkläger und ihre ebenfalls türkischen Anwälte gleich zu Beginn darauf, das Kreuz im Gerichtssaal abzuhängen. Guido Wolf, Justizminister in Baden-Württembergs grün-schwarzer Koalition, mußte sich vorhalten lassen, sein Gesetzentwurf zur Verbannung „aller religiösen Symbole“ aus den Gerichtssälen richte sich allein gegen das Kopftuch, weil laut Ministerium bereits heute in keinem Gericht im Südwesten mehr ein Kreuz hänge.

Die formal neutrale „Gleichbehandlung“ ist nur eine Momentaufnahme in diesem kulturellen Machtkampf, in dem sich nur eine Seite ihrer Identitätssymbole freiwillig entschlägt. Das Kreuz ist auf dem Rückzug, das Kopftuch auf dem Vormarsch. Auch das Berliner „Neutralitätsgesetz“ steht vor dem Fall, seit im Mai ein Urteil rechtskräftig wurde, das einer abgelehnten Kopftuch-Referendarin Recht gegeben hatte. Säkularistische Konsequenz wird immer häufiger auf die Verbannung christlicher Symbole beschränkt bleiben – und seien sie noch so unscheinbar wie das Schmuckkreuzchen der gemaßregelten Neuköllner Lehrerin.