© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/17 / 02. Juni 2017

Die Evolution des Daseins
Vom Urknall zum Menschen: Der Schriftsteller Raoul Schrott erzählt in poetischen Formen vom Leben
Felix Dirsch

Der „Ilias“-Übersetzer und Schriftsteller Raoul Schrott hat ein Werk vorgelegt, das schon in chronologischer Hinsicht kaum zu übertreffen ist: Es reicht vom Urknall bis zur Entstehung des Homo sapiens. Faszinierend ist, daß Schrott die Forschung zu diesem immensen Zeitraum, die in einem gerafften Überblick erfolgt, synoptisch poetisiert darstellt. In dem 156 Seiten umfassenden, klein gedruckten Anhang schlägt der Verfasser einen Bogen vom Kapitel „Erstes Licht I“ bis zum Abschnitt „Kulturelle Evolution IV“ des Menschen. So kann der Leser hin- und herspringen zwischen den einigermaßen gesicherten wissenschaftlichen Fakten und der dichterischen Erfassung dieser so entscheidenden Abläufe und Vorgänge für die menschliche Existenz.

Der Zeitaufwand zur Abfassung eines solchen Opus ist gewaltig. Schrott hat etliche Reisen zu Orten unternommen, denen herausragende Bedeutung in Milliarden Jahre alten Prozessen zukommt. Die mexikanische Halbinsel Yukatan ist eine derartige Region, die durch den Einschlag eines Meteoriten berühmt wurde, der nach einer umstrittenen Theorie das Ende der Dinosaurier besiegelt haben soll. Zudem führte der Verfasser zahlreiche Gespräche mit Gelehrten, die maßgeblich zur wissenschaftlichen Grundlagenforschung beigetragen haben.

Warum bedarf es eines solchen Mammutprojekts? Der Physiker und Nobelpreisträger Richard P. Feynman bemängelte vor über einem halben Jahrhundert, daß „unsere Dichter“ nicht in der Lage seien, jene „staunenerregende Erkenntnisse anschaulich werden zu lassen“, die die Wissenschaftler zutage förderten. Das trifft genau die Absicht Schrotts. Er weiß, daß kühle wissenschaftliche Rationalität in sämtlichen akademischen Disziplinen großartige Theorien hervorbringt, die freilich das Bedürfnis nach Sinnhaftigkeit nicht befriedigen können. Hier liegt ein Motiv des literarischen Wirkens des Autors: Er möchte eine naturalistische Daseinserklärung vorlegen. Ihre agnostisch-atheistischen Intentionen sind offenkundig. Nicht zuletzt in dieser Hinsicht besteht ein Unterschied zu Alexander von Humboldts bahnbrechender Abhandlung „Kosmos“, die zudem keine so stark poetische Komponente aufweist.

Der genaue Kenner der „Ilias“ zeigt sich auch beim Studieren der poetischen Passagen des Buches, die sich an das griechische Meisterepos anlehnen. Mögen die inneren Monologe auch manchmal ermüdend sein, erfreut doch der allzu menschliche Zugang. Einige Protagonisten, denen Schrott eine Stimme verleiht, sind sexuell unbefriedigt. Der Ton klingt an diversen Stellen vulgär. Auch das ist für Schrott ein Teil der Evolution. Besonders beeindruckt der Bericht einer polnischen Paläobiologin, die zur Säugetierentstehung forscht; sie ist eine Überlebende des Warschauer Aufstandes und Folteropfer, die ihr Humanum nach der Befreiung 1945 in der Natur wiedergefunden hat. Kürzlich ist sie in hohem Alter verstorben.

Der Anfang von allem wird traditionell seit Tausenden von Jahren mittels mythischer Erzählungen dargestellt. Schrott nähert sich dieser Thematik über den letzten umfassenden, mündlich hervorgebrachten Weltschöpfungsmythos. Er stammt von den Maori und wurde Mitte des 19. Jahrhunderts im Höhlensystem von Waitomo verbreitet, in dem die Angehörigen dieses Stammes einen Ahnenkult praktizierten.

Hervorzuheben ist die Vielzahl von Wissensgebieten, auf die der Autor ausgreift: Geologie, Geochemie, Biologie und Biochemie, um nur einige zu nennen. Leitmatrix ist die synthetische Evolutionstheorie Ernst Mayrs. Auch zieht Schrott verschiedene Resultate der modernen Genetik heran. Sein zentrales, erkenntnisleitendes Interesse liegt in dem Versuch, den Weg vom Einzeller zum modernen Menschen wenigstens in groben Zügen zu verfolgen.

Im Detail freilich sind die Irrungen und Wirrungen der verschlungenen Bahnen ebensowenig zu begreifen wie zu rekonstruieren. Mit Recht konstatiert der Autor, daß es keine konsensfähige Definition von Leben gibt. An einer Stelle ist Schrott darüber verwundert, wie „chimärenhaft das Leben ist – wie hybrid zusammengestückelt“. Einige unserer Extremitäten rühren vom Lungenfisch her. Immer liegt die Betrachtungsweise Charles Darwins zugrunde, der dem Körper des Menschen den Stempel seines niederen Ursprungs unauslöschlich eingeprägt sieht.

Angesichts eines derart weiten Bildungshorizonts werden manche Leser, entmutigt von den nicht leicht verständlichen Textmassen, die gewichtige Darstellung weggelegt haben. Das Erzählen ohne nennenswerte Interpunktion und die Kleinschreibung erhöhen nicht gerade die Lesbarkeit. Zudem geben Einzelheiten im wissenschaftlichen Teil, etwa im Kontext der Sprachentstehungstheorien, Anlaß zur Kritik. Doch das ist verzeihlich.

Schrott hat Mut zum großen Wurf bewiesen, eine Seltenheit im Zeitalter fortgeschrittener Spezialisierung der Wissenschaften. Die herkulische Aufgabe ist ihm gelungen.

Raoul Schrott: Erste Erde – Epos, Carl Hanser Verlag, München 2016, 834 Seiten, gebunden, 68 Euro