© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/17 / 02. Juni 2017

Mehr als schöner Schein
Widerstandsbewegung: Zu der großen Ausstellung „Art déco“ in Italien
Karlheinz Weißmann

Wer um die Ecke des großen Gangs im Erdgeschoß des Museums San Domenico von Forli, südöstlich von Bologna gelegen, biegt, steht unvermittelt vor dem Wagen Gabriele D’Annunzios: eine Isot-ta Fraschini, ein lichtblau lackiertes, luxuriöses Fahrzeug mit weißem Sportverdeck und roten Felgen. Es kommt aus dem Bestand des „Vittoriale“, der prunkvollen Villa oberhalb des Gardasees, die für den schönheitstrunkenen Poeten, den Dandy, den décadent, den Dichtersoldaten errichtet wurde. D’Annunzio (1863–1938) paßt gut in den Rahmen des italienischen Art déco, dem die große nationale Ausstellung mit rund 400 Objekten in Forli gewidmet ist. Denn unter dem Stilbegriff Art décoratif – „Dekorative Kunst“ – versteht man eine Kunstrichtung, die während der zwanziger und dreißiger Jahre international, aber vor allem in den romanischen und den angelsächsischen Ländern einflußreich war.

Dabei darf der Ausdruck „dekorativ“ nicht in einem oberflächlichen Sinn verstanden werden. Es ging seinen Protagonisten immer um mehr als den schönen Schein. Obwohl ganz einheitliche Stilmerkmale fehlen, standen seine Werke doch unter dem Programm, alle Lebensbereiche zu erfassen und zu durchdringen und gleichzeitig eine Gegenwelt zu schaffen, die nur den Gesetzen der Ästhetik unterworfen war. Der Art déco hatte in manchem nostalgische, in manchem avantgardistische Züge. Er wollte ein internationaler und moderner Stil sein, aber gleichzeitig eine Widerstandsbewegung gegen die Verhäßlichung und Brutalisierung der technischen Zivilisation.

Für die Ausstellungsmacher in Forli begann der Art déco in Italien mit der „Internationalen Ausstellung der dekorativen Künste“, die 1923 in Monza stattfand. Sie war ein so großer Erfolg, daß sie 1925, 1927 und 1930 wiederholt werden konnte. Etablierte Künstler und Neulinge der Szene stellten ihre Werke aus, die von Architekturentwurf und Skulptur über Malerei und Graphik bis zur Schmuck-, Möbel-, Keramik-, Kleidungs- und Buchgestaltung reichten. Auch Alltagsgegenstände der Zwischenkriegszeit weisen den Einfluß des Art déco auf, und vieles von dem, was den heutigen Betrachter anspricht, erklärt sich aus der Wirkung, die er auf das Industriedesign hatte.

Affinitäten und Vorbehalte Mussolinis

Während die französischen Anfänge der Bewegung in Forli betont werden, treten die „germanischen“ Vorläufer dieser Tendenz eher zurück, insbesondere die Impulse, die aus den Konzepten von Werkbund und Wiener Werkstätten stammten oder aus den strengeren Formprinzipien des englischen Jugendstils. Die Berührungen mit dieser Kunstrichtung werden sonst nicht bestritten, aber zu Recht betont, daß der Art déco die Formensprache reduzierte, auf Einfachheit der Linienführung und die Schmiegsamkeit gestreckter Gestaltungen setzte. Dabei nahm er Anregungen aus ganz verschiedenen Kunstrichtungen auf, vom Symbolismus, Futurismus und Kubismus bis hin zu den seinen Absichten eigentlich entgegenlaufenden Konzepten des Bauhauses oder des Funktionalismus.

Was das im Hinblick auf die produktive Verarbeitung der Impulse in Italien bedeutete, bekommt man in Forli in seltener Fülle präsentiert. Das Spektrum reicht von Bildern über Skulpturen bis zu Keramiken, von heute vergessenen Künstlern bis zu den berühmten Porträts der Tamara de Lempicka, die längst zu den Ikonen des 20. Jahrhunderts gehören.

Vielfach wird der Art déco auch als „Style 1925“ bezeichnet, nach dem Jahr, in dem die große „Internationale Ausstellung der dekorativen Kunst und modernen Industrie“ in Paris stattfand und für weltweites Aufsehen sorgte. Und tatsächlich war vieles von dem, was den Art déco attraktiv machte, zeitgebunden, dem Geist der „Goldenen Zwanziger“, der „Roaring Twenties“, der „Anni ruggenti“, wie man in Italien sagte, geschuldet. Das relativiert auch das oft zitierte Diktum der Essayistin Susan Sontag, wonach faschistische Ästhetik im Art déco vollendet zum Ausdruck komme.

In Forli wird jedenfalls mit Nachdruck darauf hingewiesen, wie ambivalent das nach dem Ersten Weltkrieg in Italien etablierte Regime Mussolinis dieser Kunstrichtung gegenüberstand. Es gab zwar durchaus Affinitäten, was den Vitalismus oder die Feier der Totalität betraf, aber auch Vorbehalte, vor allem ideologische, des Faschismus, wenn es um den Anspruch auf Selbständigkeit des Ästhetischen, die Neigung zum Verspielten oder Effeminierten ging. So wurde das „Vittoriale“ zwar auf Befehl Mussolinis für D’Annunzio, den Nationalhelden, seinen Vorläufer und Konkurrenten, gebaut, aber wer durch Forli geht, das er in eine Musterstadt – „die Stadt des Duce“ – verwandeln wollte, und sich die erhaltenen Gebäude dieser Epoche ansieht, spürt unmittelbar, wie groß der Abstand ist.

Die Ausstellung ist noch bis zum 28. Juni im Museum San Domenico in Forli zu sehen. Es empfiehlt sich, Eintrittskarten über das Internet vorzubuchen. Der reich illustrierte Katalog liegt nur in italienischer Sprache vor.

 www.mostrefondazioneforli.it