© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/17 / 02. Juni 2017

Zwischen Show und Gegenöffentlichkeit
Radio: Der Podcast kehrt zurück und ermöglicht es, sein Hörvergnügen individuell zu gestalten
Roman Goth / Gil Barkei

Das klassische Fernsehen geht seinem vielbeschworenen Ende entgegen. Der Trend zu den nonlinearen, mobilen und jederzeit frei terminierbaren Programmen der Online-Plattformen wie beispielsweise Netflix ist laut Bundesverband Digitale Wirtschaft BVDW „gefestigt und unumkehrbar“. Doch neben der Debatte um das Fernsehen der Zukunft gibt es aktuell deutliche Anzeichen, daß eine vergleichbare Entwicklung auch auf jenes Mediums zutreffen könnte, das man heute gemeinhin noch „Radio“ nennt.

Podcasts ermöglichen es dem Nutzer, sein Hörvergnügen ebenfalls individuell zusammenzustellen. Und aus Konsumenten werden schnell Produzenten. Jeder mit einem aufnahmefähigen Mobiltelefon und einem im Netz frei erhältlichen Audio-Schnittprogramm wie „Audacity“ kann seine eigene Sendung erstellen und über eine Internetseite oder einen Server – dem sogenannten „Podspace“ – zum regelmäßigen, automatischen und kostenfreien Herunterladen anbieten. 

Vor über zehn Jahren entwickelt, fristete der Podcast bisher eher ein Nischendasein im Schatten prestigeträchtiger Hörbuch-Produktionen oder bunter Youtube-Videos. Nun aber erlebt er eine Wiedergeburt. Von Wissens- und Diskussionsformaten bis zu Reportagen und Krimileserunden: frische, innovative Formate und Distributionswege entstehen in schneller Folge, und sogar verschollen Geglaubtes kehrt zurück. So ist etwa das einst eingestellte Podcast-Abspielprogramm „Instacast“ als neue App „Instacast Core“ vom Daten-Friedhof auferstanden.

Der etablierte Journalismus hat die jüngste Popularität der abonnierbaren Audio-Serien erkannt. Traditionsreiche Institutionen wie die New York Times, aber auch deutsche Blätter gönnen sich Podcast-Redaktionen. Während Spiegel Online mit „Stimmenfang“ einmal wöchentlich einen politischen Podcast zum Bundestagswahljahr anbietet, füllt der Zeitverlag seinen Podcast mit Geschichten aus dem Magazin Zeit Wissen. 

Etablierte Medien binden Audio wieder vermehrt ein

Die Rheinische Post hat gleich vier Audio-Formate im Angebot, die ein breites Themenspektrum abdecken. So faßt der „Aufwacher“ einen allmorgendlichen „akustischen Nachrichtenüberblick“ zu den wichtigsten Themen des Tages zusammen, und das „Gute Leben“ informiert immer mittwochs über bunte gesellschaftliche Themen wie die Vor- und Nachteile von Tätowierungen.

Daß selbst „Funk“, das primär ins digitale Bewegtbild drängende Jugendangebot von ARD und ZDF, mit „Talk ohne Gast“ nun ebenfalls ein solches Format in sein Angebot aufgenommen hat, verdeutlicht die Etablierung des Podcast als zusätzlichen Medienkanal – gerade für junge Menschen. 

Und auch klassische Radiosender wie der Deutschlandfunk wollen ihre Inhalte noch besser strukturieren und „nachhörbar“ machen. Der Podcast „SWR2 Wissen“ gehört schon jetzt zu den erfolgreichsten Projekten in deutscher Sprache.

Die Nutzerzahlen der Hör-Angebote in Apples iTunes und anderen Online-Geschäften steigen stetig, und Vlogger und Bewegtbildredakteure reiben sich verwundert die Ohren: Gerade in Zeiten stets verfügbarer Bildschirme feiert ausgerechnet ein bilderloses „altes neues“ Medium beachtliche Erfolge. 

Hauptgründe für die Entwicklung sind die Einführung des Smartphones, günstige und schnelle Datentarife sowie der damit einhergehende Erfolg der Musik-Streamingdienste. Allen voran Spotify und Deezer, die den Podcast und seine Chancen für sich neu entdeckt haben: als schnellen Weg, exklusive Inhalte in Reihen an den mobilen Nutzer zu bringen und diesen damit an die eigene Plattforme zu binden. Denn der Serientrend des fiktionalen Fernsehens läßt sich gerade im seit jeher seriellen Podcast-Format aufgreifen – nur direkter und vor allem günstiger.

Mit den großen Unternehmen und ihren technischen Mitteln werden die Produktionen immer professioneller. Die Streaming-Plattformen kooperieren gezielt mit namhaften Moderatoren und Meinungsmachern. Bei Spotify plaudern Jan Böhmermann und Olli Schulz in ihrem Programm „Fest und flauschig“ über banale Themen wie den wahrscheinlichen Sieger eines Straßenkampfes zwischen einem Panda- und einem Braunbären. Etwas ernster diskutieren Sarah Kuttner und Stefan Niggemeier auf Deezer. In den jeweils etwa 45 bis 60 Minnuten langen Folgen von „Das kleine Fernsehballet“ besprechen die Moderatorin und der Macher der Medienseite uebermedien.de ausgerechnet das TV-Angebot in Deutschland. 

Darstellungsmöglichkeit für nonkonforme Stimmen

Denn trotz der allgegenwärtigen Bilderflut gibt es für den zunehmend mobilen Nutzer immer noch zahlreiche Situationen, in denen die Augen anderweitig benötigt werden. So erleben auf freie Sicht bedachte Fußgänger, Auto- und Radfahrer die Informations- und Unterhaltungs-Emanzipation vom verflachten Radioangebot zum Beispiel bei der aktuellen Sendung „Sexvergnügen“ der beiden Sprecherinnen Leila und Ines. Oder der Fitneß-Süchtige stemmt Eisen zu der neuen Ausgabe „Blaue Stunde“ von Komiker Serdar Somuncu. Wem das alles zu aufregend ist, findet beim „Einschlafen Podcast“, bei dem stundenlang eine beabsichtigt ruhige Stimme völlig Belangloses erzählt oder vorliest, die langersehnte Entspannung.

Wie lohnend eine Entdeckungsreise in die vielfältige Podcast-Welt sein kann, die auch eine mediale Gegenöffentlichkeit fördert, zeigen verschiedene regierungskritische Podcasts wie „Lage der Nation“ oder „Leuchtfeuer“ der Identitären Bewegung.