© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/17 / 02. Juni 2017

Der kultivierte Einzelgänger
Karl Heinz Bohrers Autobiographie bietet einen kurzweiligen Einblick in das linksliberale Justemilieu der Bundesrepublik
Karlheinz Weißmann

Es gibt ein hartnäckiges Mißverständnis in bezug auf Karl Heinz Bohrer. Dieses Mißverständnis besteht darin, daß er ein „Konservativer“, vielleicht sogar ein „Rechter“, sei. Es erklärt sich teilweise aus einer entsprechenden Deklaration durch Jürgen Habermas, teilweise durch die verdächtigen Interessengebiete Bohrers – die Nordische Renaissance, Ernst Jünger, Ästhetik, das Thema Gewalt –, teilweise durch seine Parteinahmen für Preußen, die britishness, die Wiedervereinigung, zuletzt noch für den Kapitalismus und die Kriegführung als Ultima ratio. Aber das alles ändert nichts an der Tatsache, daß Bohrer weder konservativ noch rechts ist. Das konnte er gar nicht sein, denn sonst hätte er nicht die Karriere gemacht, die er gemacht hat: vom Nachwuchsjournalisten auf direktem Weg zum Chef des einflußreichen „Literaturblatts“ der FAZ, zum Kulturkorrespondenten in seiner Lieblingskapitale London, zum Professor für Literaturwissenschaft und Herausgeber der wichtigsten intellektuellenzeitschrift der Bundesrepublik, dem Merkur.

Die Stationen erscheinen hier in geraffter Folge. Aber auf den fünfhundertvierzig Seiten der Autobiographie Bohrers spielen die äußeren Faktoren auch nur eine Nebenrolle, schon Jahreszahlen sind selten, manche Person wird vorgestellt, manche anonymisiert, manche tritt auf, manche unvermittelt ab, ohne jede Erklärung. Im Zentrum stehen die innere Entwicklung und die Reflexion über „das sogenannte Leben“. Das, was da geboten wird, ist immer gut lesbar, oft unterhaltsam, manchmal degoutant, und in mehr als einer Hinsicht informativ. Vor allem erfährt man etwas über den Kulturbetrieb der alten Bonner und der jungen Berliner Republik, bekommt nicht nur die Fassade zu sehen, sondern auch das Dahinter, die Gesetzmäßigkeit der Abläufe – auch wenn deren Gesetzmäßigkeit Bohrer nicht ganz klar zu sein scheint – und die Entstehung jener Mentalität, die bis heute das geistige Klima vergiftet. Insofern ist das Buch ein Dokument.

Das gilt selbst da, wo die Selbstbezogenheit des Autors jede Sachlichkeit überwiegt. Etwa, wenn es um die Bedingungen seines Erfolgs geht. Beispielhaft kommt das Gemeinte in einer Szene zum Ausdruck, als er wegen des – nicht ganz unbegründeten – Verdachts, daß er beziehungsweise seine Frau eine Organisation im Umfeld der Baader-Meinhof-Bande unterstützte, vor die Herausgeber der FAZ zitiert wird. Bohrers Lavieren nimmt man klaglos hin, der Vorsitzende durchschaut allerdings die Taktik, um sie mit einem spöttischen „Chapeau bas“ zu quittieren und es damit gut sein zu lassen. 

Bohrer kommt ungeschoren davon, mehr noch, er zieht sich wieder in die „Zeitung in der Zeitung“, das linke Feuilleton, zurück, wo die Progressiven – etwa der Kunstkritiker und bekennende „Stalinist“ Eduard Beaucamp – tun und lassen, was sie wollen, ungestört von den „Faschistoiden“. Bohrer hat das zwar milde irritiert, aber keinen Widerspruch erregt. Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre war die Stimmung eben danach, daß das „Wort ‘Revolution’ gefiel“. Er war neugierig auf die radikalen Studenten und sympathisierte mit ihren Forderungen, blieb aber zu distinguiert, um unter Ho-Chi-Minh-Rufen auf die Straße zu gehen, und zu klug, um je Ernst zu machen mit dem Kollektivismus. 

Das merkten die harten Typen natürlich und drohten mit Kopfschuß nach der Machtergreifung. Aber die Naherwartung des ganz großen Kladderadatsch war schnell vorbei, die Unwahrscheinlichkeit, daß solche Absichten in die Tat umgesetzt werden konnten, merkbar. Was blieb, war die linke Monokultur. Die erlaubte es Bohrer durchaus, seine „liberale“ Individualität zu pflegen. Er hatte Habermas als Patron, hegte seine Imagination und hielt sich die politische Realität so gut es ging vom Leib.

Habermas ehrfürchtig als „der Philosoph“ bezeichnet 

Es wäre eine Untersuchung wert, was am Fall Bohrers typisch war. Wie vielen von seinesgleichen war der Weg durch die Alten, die Männer des Wiederaufbaus, der „Restauration“, des „Muffs“ der Adenauerzeit, gebahnt worden. Solchen, die wußten, daß die Jungen nicht auf ihrer Seite standen, schon deshalb, weil sie jung waren. Und geklärt werden sollte auch, warum jemand von Bohrers Intelligenz so konsequent und wider bessere Einsicht dem „Nichtrichtigen“ zuneigte, ohne dafür jemals den angemessenen Preis zu bezahlen. Die Bürgerlichen jedenfalls sahen seine Begabung und förderten ihn. Wenn diese Förderung zusätzlich von der Gegenseite kam – vor allem dem ehrfürchtig als „der Philosoph“ bezeichneten Habermas –, hat sich Bohrer auch das gefallen lassen, aber letztlich nur um sein Einzelgängertum zu kultivieren.

Das tief Problematische dieser Haltung scheint im Buch nur selten auf. So im Fall des Kriegs Anfang der sechziger Jahre in Algerien, das schon wegen Bohrers Verehrung für Camus mehr als einmal vorkommt. Da gibt es die Szene, als er zu Besuch bei französischen Kommilitonen in Montpellier ist, wo sich 1961, nach dem Militärputsch in Algier, die Nachricht verbreitet, daß die Rebellen über das Meer kommen und an der Küste vor der Stadt anlanden würden. 

Also beobachtet Bohrer fasziniert, wie sich die mehrheitlich kommunistischen Studenten bewaffnen (es ist sogar von einem Maschinengewehr die Rede, das einer für diesen Fall im Kleiderschrank verborgen hielt), um die Invasion der „Faschisten“ abzuwehren und zu vollenden, was die Résistance versäumt hatte, als sie die Befreiung nicht nutzte, um Revolution zu machen. Es herrscht eine Stimmung wie in Hemingways „Wem die Stunde schlägt“. Aber es bleibt alles Hysterie und Romantik. Keine Invasion, die gute Sache siegt ohne einen Schuß, Algerien wird unabhängig, die französischen Siedler fliehen millionenfach, die Harkis werden massakriert, und dann versinkt das Land in Korruption, Anarchie und Elend. Bohrer kommt einmal darauf, aber nur mit einer Art Achselzucken. Ohne jede Frage nach der historischen Verantwortung, die seine Generation so gern gestellt hat. Aber was erwartet man?

Karl Heinz Bohrer: Jetzt. Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017, gebunden, 541 Seiten, 26 Euro