© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/17 / 02. Juni 2017

Auf der Nordhalbkugel der Erde tickt eine Zeitbombe
Tauende Permafrostböden beschleunigen den Klimawandel / Deutsche Forscher arbeiten im nordsibirischen Jakutien
Christoph Keller

An der Northern Arizona University in der Kleinstadt Flagstaff unweit des Grand Canyons dreht Edward Schuur ein großes Rad, das sich hinter Schaufenster-Projekten seiner Kollegen in Berkeley oder Harvard nicht zu verstecken braucht. Denn der Professor für Ökosystem-Ökologie ist leitender Wissenschaftler des Permafrost Carbon Network, einer internationalen Forschergruppe, die neue Erkenntnisse über den Kohlenstoff im Permafrost und dessen zu erwartenden großen Einfluß auf den Klimawandel gewinnen möchte.

Obwohl jedem Alarmismus abhold, erweckt Schuurs Bericht über die „tauende Tundra“ (Spektrum der Wissenschaft, 4/17) doch den Eindruck, als operiere seine Mannschaft neben einer tickenden Zeitbombe. Der Dauerfrostboden ist ein Sediment, das länger als zwei Jahre gefroren ist und bis zu 1.370 Meter Mächtigkeit aufweisen kann. Es tritt jedoch kontinuierlich, lückenhaft oder inselartig auf, erstreckt sich über mehrere Vegetationszonen von der Taiga bis zur Tundra und unterlagert sogar den Meeresgrund der arktischen Schelfmeere. Insgesamt umfaßt der durchgängig gefrorene Boden 16,7 Millionen Quadratkilometer, eine Fläche fast so groß wie Südamerika. Bis heute hat der Permafrostgürtel der Nordhalbkugel der Erde vor allem Vertreter einer Nischendisziplin fasziniert: die Paläontologen.

Verschlechterung unserer Lebensbedingungen?

Um Auskunft über die Erdgeschichte zu erhalten, begannen russische Forschungen in der „ewigen Gefrornis“ schon vor 350 Jahren. In deren Tradition stehen Untersuchungen, die gegenwärtig zwei Forschergruppen vom Weimarer Senckenberg-Institut für Quartärpaläontologie und vom Görlitzer Naturkundemuseum im nordsibirischen Jakutien vorantreiben: Um Daten aus eiszeitlichen Sedimenten zu erheben, die die Abfolge der Ökosysteme in den letzten 130.000 Jahren erklären, primär aber, um die Ursachen des großen Faunen- und Florenwandels gegen Ende der Eiszeit vor 10.000 Jahren aufzuklären, arbeitet man dort an den gewaltigen, durch natürliche Erosion entstandenen Aufschlüssen in den jakutischen Regionen Batagai und Duvanny Jar (Senckenberg, 9-10/16).

Aus Schuurs Sicht dürften in Sibirien bald paradiesische Forschungszustände herrschen. Werde die rasch voranschreitende Erwärmung doch die Zahl der Aufschlüsse erheblich vermehren, so daß dem Permafrostgürtel sukzessive die meisten seiner erdgeschichtlichen Geheimnisse zu entlocken sind. Das konfrontiert die Menschheit jedoch in seinen schlimmsten Prognosen mit höchst unangenehmen Verschlechterungen ihrer Lebensbedingungen. Deren Vorboten studiert er derzeit in der Tundra Zentralalaskas, wo er im Permafrostboden die Auswirkungen globaler Erwärmung registriert. Der Boden schmelze dort nicht, sondern taue auf, was zum Erwachen von Mikroorganismen aus ihrem Kälteschlaf führe. Sie zersetzen dann die im Boden lagernden Überreste von Pflanzen und Tieren. Die Mikroben verwandeln dieses Material in die Treibhausgase Kohlendioxid oder Methan.

Permafrostregionen speichern 1,5 Billionen Tonnen organischen Kohlenstoff, das Doppelte der in der Erdatmosphäre enthaltenen Menge. Entweichen davon bis 2100 fünf bis 15 Prozent, würde dies den Klimawandel erheblich beschleunigen. Schuur rechnet unweigerlich damit. Seine Bodenanalysen sollen daher nicht beantworten, ob sich dieser Prozeß vollziehen wird, sondern nur noch, welche Mengen an Treibhausgasen aus tauendem Permafrostboden tatsächlich in die Atmosphäre gelangen und wie schnell mikrobielle Aktivität diese klimarelevanten Gase freisetzt.

Center of Ecosystem Science and Society:  www2.nau.edu