© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/17 / 09. Juni 2017

„Speerspitze der Opposition“
Am Sonntag beginnt in Frankreich die erste Runde der Wahl zur Nationalversammlung. Bekommt der Front National nach der Niederlage im Mai damit eine zweite Chance? Nur wenn die Partei sich erneuert, mahnt der französische Intellektuelle Vincent Coussedière
Moritz Schwarz

Herr Coussedière, wird der Front National (FN) bei der Wahl am Sonntag erneut zur ernsten Bedrohung für die Etablierten? 

Vincent Coussedière: Momentan liegt er laut Umfragen nur bei etwa zwanzig Prozent. Immerhin aber wird er am Ende der beiden Wahlgänge am 11. und 18. Juni mit Sicherheit ein besseres Ergebnis erreichen als etwa die Bewegung La France insoumise (Unbeugsames Frankreich) des Linken Jean-Luc Mélenchon. 15 bis 20 Abgeordnete in der Assemblée nationale, der Nationalversammlung, – das würde für den Front National bereits einen Sieg bedeuten.

Also wird er das Ergebnis in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl im Mai – 21 Prozent – nun wiederholen?

Coussedière: Ich denke, es könnte schon leicht abweichen. Nicht nur wegen eines möglichen Dreikampfes in der zweiten Runde der Parlamentswahl (denn sobald ein Kandidat in der ersten Runde am Sonntag 12,5 Prozent der Stimmen erhält, kommt er in die zweite eine Woche später). Sondern auch weil die Wahl der Abgeordneten der Nationalversammlung davon abhängt, wie es um ihre Glaubwürdigkeit und Verwurzelung im Wahlkreis bestellt ist. Diesbezüglich ist zwar die Partei des Siegers der Präsidentschaftswahl, Emmanuel Macrons Bewegung En Marche (Auf dem Vormarsch), etwas im Nachteil. Aber sie profitiert noch von der Signalwirkung, die von ihrem Erfolg im Mai ausgeht. En Marche liegt mit nun 28 Prozent – zum Vergleich: 24 Prozent in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl im Mai – weit vorne. Gegenüber, wie gesagt, nur etwa zwanzig Prozent für den Front National.

Bei der letzten Wahl zur Nationalversammlung 2012 holte der FN nur zwei Sitze. Sollte er nun 15 bis zwanzig erobern, welche Folgen wird das haben?

Coussedière: Die Folgen wären in erster Linie für den Front National selbst von Bedeutung, da er dann seit langem erstmals über ausreichend Abgeordnete verfügen wird, um eine Parlamentsfraktion zu bilden. Das wiederum würde ihm ermöglichen, zur Speerspitze der Opposition zu werden. Und dies verliehe Marine Le Pen, wenn sie denn selbst gewählt wird, eine nationale Bühne.

Marine Le Pen will den FN reformieren. Wird es dazu wirklich kommen, oder redet sie nur davon und beläßt es bei kosmetischen Korrekturen?

Coussedière: Es wird auf jeden Fall sowohl zu einer Entwicklung als auch zu einer Debatte innerhalb des Front National kommen. Erste Spannungen sind bereits aufgetreten, etwa mit der Anfechtung der Linie des Vize-Parteichefs Florian Philippot in Hinblick auf den Euro und den Rückzug von Marion Maréchal-Le Pen – eine der bisherigen Parlamentsabgeordneten und Nichte Marine Le Pens – aus der Politik. Jedoch wird alles unternommen, um diese Debatte auf die Zeit nach der Parlamentswahl zu verschieben, damit während des Wahlkampfes kein Bild der Zerstrittenheit entsteht.

War der Ausgang der Präsidentschaftswahl im Mai tatsächlich eine Niederlage für Marine Le Pen? Oder doch ein Sieg – schließlich ist der FN-Kandidat, Le Pen, mit über 33 Prozent im zweiten Wahlgang so stark geworden wie nie zuvor.

Coussedière: Gewiß, Le Pen hatte eine beträchtliche Zahl Wähler und gewann zwischen den beiden Wahlrunden über drei Millionen Wähler. Gleichzeitig aber scheint es schwer vorstellbar, daß der Front einmal an die Macht kommen wird, angesichts seiner Isolation und einer fehlenden Bündnisstrategie – von dem vorschnellen, jüngst geschlossenen Bündnis mit Nicolas Dupont-Aignan, Chef der Partei Debout la France (Steh auf Frankreich!) einmal abgesehen.

Wenn der FN bei der Präsidentschaftswahl im Mai so gut abgeschnitten hat wie noch nie, warum sollte er dann nun reformiert werden müssen?

Coussedière: Weil es sich nichtsdestotrotz um eine Niederlage handelt. 

Warum? 

Coussedière: Weil er sich seit sehr langer Zeit auf dem Feld der Politik bewegt, ohne an die Macht zu kommen. So drohen die Gefahr von Verschleißerscheinungen, weshalb Marine Le Pen sich gezwungen sieht, ihn zu reformieren.

Aber warum sollte die Partei ihren Namen ändern? Schließlich ist Front National eine Marke. 

Coussedière: Eine Umbenennung ist schon notwendig, allerdings reicht sie alleine nicht aus. Auch aufgrund dessen, was Marine Le Pen repräsentiert: Für die Franzosen bleibt sie die Tochter ihres Vaters und das trotz ihrer Bemühungen, sich von ihm zu distanzieren. In diesem Sinne war ihr Verhalten im Präsidentschaftswahlkampf untragbar, denn es erinnerte die Franzosen an die provokante und ein wenig „präsidentielle“ Art von Vater Jean-Marie Le Pen. Aber die Namensänderung wird zu nichts taugen, wenn mit ihr keine politische und strategische Neuorientierung einhergeht.

Einige sprechen bereits über Marine Le Pens politisches Ende. Ist das tatsächlich absehbar? Und könnte ihre Nichte Marion Maréchal-Le Pen sie beerben, wie manche meinen, obwohl diese ihren Rückzug aus der Politik angekündigt hat? 

Coussedière: Kurzfristig gesehen ist eine Beerbung  durch Marion kein Thema, eben weil sie ihren Rückzug angekündigt und sogar das Abgeordnetenmandat für ihren Wahlkreis abgelehnt hat. Es ist aber möglich, daß sie versucht, die Dinge erneut in die Hand zu nehmen und eine eigene Bewegung zu gründen – und zwar zusammen mit Leuten des rechten Flügels der Republikaner, also der ehemaligen UMP, der Partei Nicolas Sarkozys und François Fillons. Vor allem in dem Fall, daß ihre Tante Marine bei der Wahl am Sonntag und dann mit der Belebung des Front durch Reformen scheitert. Ja, der Front National könnte sogar regelrecht auseinanderfallen, und zwar wegen der Euro-Frage, die die Partei in Befürworter und Gegner eines Austritts aus der Gemeinschaftswährung spaltet.

Ist mit den Präsidentschafts- und den Parlamentswahlen der Zenit erreicht, oder ist das erst der Anfang und der FN wird künftig noch stärker? 

Coussedière: Das wird von seiner Fähigkeit zur Selbsthinterfragung abhängen. Dennoch, die Ergebnisse von 2017 bleiben eine Niederlage, da die Machtübernahme in einem Kontext, der sehr günstig war – Terrorismus, Brexit, die Wahl Trumps, die Migrationswelle und die Arbeitslosigkeit  – nicht gelungen ist.

Der Schriftsteller Michel Houellebecq sagt in seinem 2015 erschienene Roman „Unterwerfung“ voraus, Le Pen werde die Präsidentschaftswahl 2017 verlieren, 2022 aber gewinnen. Ist das realistisch? 

Coussedière: Ein Sieg des Front National in der Zukunft setzt eine funktionierende Bündnisstrategie und eine Neuorientierung in der politischen Debatte voraus. Die Partei müßte aus ihrer jetzigen rein reaktiven und systemoppositionellen Haltung herausfinden – ohne ihre Prinzipien preiszugeben. Die Franzosen mögen der EU, Einwanderung etc. kritisch gegenüberstehen, sie hegen aber auch den Wunsch nach einer Politik, die Frankreich verzaubert und den Weg hin zu einer Bewährung des Landes im 21. Jahrhundert ebnet. Marine Le Pen vermochte es offensichtlich nicht, diese Hoffnung zu geben, Macron dagegen schon. Sicher wird sich das als Illusion entpuppen, aber es hätte verdient zu funktionieren. Und sicher wird man eines Tages erkennen, daß Macron ein wesentlich gefährlicherer Volksverführer gewesen ist als Le Pen.

Ist der FN eine Rechtspartei wie jede andere oder hat er etwas Spezifisches? 

Coussedière: Er hat eine besondere Geschichte, die an die französische Historie sowie an die Epoche der Entkolonialisierung gebunden ist. Er entstand gewissermaßen aus der inneren Spaltung des Gaullismus nach der algerischen Unabhängigkeit 1962 und ist also, anders als oft angenommen, nicht einfach ein Produkt infolge des Pétain- und Vichy-Regimes von 1940 bis 1945. Seine Herkunft beruht auf historischen Wunden, die nicht verheilt sind. In doktrinärer Hinsicht ist die Antwort schwierig, weil seine jetzige Doktrin, durch Marine Le Pen stark weiterentwickelt, künftig zweifellos angefochten werden wird, da sie auf die Rechte und die Linke zurückgreift, um das Frankreich wiederherzustellen, das in der Volksabstimmung 2005 dem EU-Verfassungsvertrag ein „Nein“ entgegengesetzt hat. Der Front steht heute den „populistischen“ Parteien näher als den klassischen Rechtsparteien, weil das, was ihn charakterisiert, ideologisches Flickwerk ist.

Auch Macron will seine neue Bewegung als Partei etablieren. Wird En Marche also zu einer neuen festen Größe in der Politik oder ist sie nur ein vorübergehendes Phänomen?

Coussedière: Im Moment scheint es, als würde Macron dies gelingen. Und En March könnte laut Umfragen in der zweiten Runde am 18. Juni eine absolute Mehrheit in der Assemblée nationale, also dem Parlament, erhalten. Schlußendlich wird alles vom Erfolg seiner Präsidentschaft abhängen. Zwar bin ich persönlich skeptisch, was die Effizienz von Macrons Politik betrifft. Jedoch angesichts der Auflösung des Parteiensystems, die er mit beschleunigt, sowie der Schwäche seiner Gegner, mit denen er zu spielen versteht, und angesichts dessen, daß er die politische und mediale Kommunikation wirklich beherrscht, wird er vermutlich in der Lage sein, sich an der Spitze zu behaupten, ja vielleicht sogar, anders als François Hollande, eine zweite Amtszeit zu gewinnen.

Was ist mit den alten Etablierten, den Sozialisten und Republikanern? Gelingt ihnen die Rückkehr zu alter Größe oder ist ihre Zeit vorbei? Verschwinden sie ganz oder bleiben Sie als kleinere Parteien immerhin ein Faktor? 

Coussedière: Ich glaube, daß wir tatsächlich eine umfassende Umstrukturierung des Parteiensystems in Frankreich erleben werden. Allerdings ist es noch zu früh, das kommende neue System  zu beschreiben. Wir müssen Geduld haben, denn es ist in der Tat ein historischer Wandel, den wir derzeit erleben. 






Vincent Coussedière, der Philosoph, spezialisiert auf politische Philosophie, wurde in Frankreich 2012 durch seinen Essayband „Lob des Populismus“ bekannt. Er publiziert regelmäßig auf FigaroVox, der Internetseite für Debatten des Figaro, einer der führenden Tageszeitungen Frankreichs, sowie in verschiedenen Zeitschriften, etwa dem konservativen Nachrichtenmagazin Causeur. Zuletzt veröffentlichte er die Bücher „Die Rückkehr des Volkes. Jahr eins“ und „Endspiel. Requiem für die Präsidentschaftswahl“. Geboren wurde Coussedière 1965 im Burgund. 

Foto: Wahlkampf in Paris: „Fünfzehn bis zwanzig Abgeordnete in der Nationalversammlung – das würde für den Front National bei den kommenden Parlamentswahlen bereits einen Sieg bedeuten“ 

 

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