© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/17 / 09. Juni 2017

„Es fängt gerade erst an und wird viel schlimmer werden“
Einwanderung: Rückkehr zu EU-Plan nach Scheitern der G7 / Erneute Massenzuwanderungswelle droht
Marc Zoellner

Zumindest einen schönen Ausblick hatte der diesjährige G7-Gipfel – das regelmäßig stattfindende Treffen der Präsidenten und Regierungschefs der sieben bedeutendsten Industrienationen der Welt – seinen Teilnehmern zu bieten: nämlich den auf das türkisblaue Mittelmeer, an dessen sizilianischer Küste sich das malerische, kaum zehntausend Einwohner zählende Fischerstädtchen Taormina schmiegt. Doch wer am letzten Maiwochenende auch beim inhaltlichen Konsens auf einen „schönen Ausblick“ hoffte, wurde enttäuscht – allen voran Gastgeber Italien, dessen Strategiepapier zur gemeinsamen Bewältigung der Flüchtlingskrise gleich von drei der sieben anwesenden Nationen zurückgewiesen wurde.

Für Rom ein schwerer Rückschlag: Denn gerade auf die Durchsetzung seines „Vision on Human Mobility“ (etwa: Zukünftige Vorstellung von einer menschlichen Reisefreizügigkeit) getauften Antrags hatte Ministerpräsident Paolo Gentiloni große Hoffnung gesetzt, sein Land vom nicht enden wollenden Zustrom an Migranten zu entlasten. Immerhin war selbst der Tagungsort nicht zufällig gewählt; liegt er doch nicht allzuweit von der afrikanischen Küste entfernt. Symbolisch sollte Taormina die Rolle Italiens als zentrales Transitland, aber auch Ziel der unzähligen Bootsmigranten aus der Dritten Welt darstellen.

Und bei der Symbolik allein blieb es nicht. Gleich zwanzig Schiffe, so hatte das Tripolitaner Verteidigungsministerium seine römischen Amtskollegen parallel zum Auftakt des Gipfels gewarnt, seien aus Libyen aufgebrochen, um Tausende von Flüchtlingen gezielt nach Sizilien zu bringen. „Heute ist der Tag des massiven Exodus illegaler Flüchtlinge nach Europa“, warnte General Ayoub Qassem, Sprecher der libyschen Marine, so die Nachrichtenagentur Reuters. Keine gute Nachricht für ein Land wie Italien, das bereits über 175.000 Migranten beherbergt und allein in diesem Jahr weitere 200.000 über den Seeweg erwartet. Mit rapide steigender Tendenz: Allein seit Monatsmitte wurden über 10.000 Migranten aus den Gewässern vor der libyschen Küste geborgen, während etwa 1.300 Menschen im Mittelmeer ertranken.

Daß neben Italien auch Deutschland 2017 das begehrteste Ziel der meisten Asylsuchenden aus Afrika und dem Nahen Osten bleibt, war der vorrangige Grund für die Bundesregierung, den italienischen Plan bedingungslos zu unterstützen – und sehr wahrscheinlich auch auf dem Hamburger G20-Gipfel im Juli erneut auf den Tisch zu legen.

„Heute ist der Tag des massiven Exodus Illegaler“

Neben der Bekämpfung der Hungersnot am Horn von Afrika beinhaltet dieser außerdem die geplante Schaffung von Arbeitsplätzen in Schwarzafrika durch internationale Partnerschaften, die Gewährleistung von „humanitären Visa“ gerade für Bootsmigranten sowie die Ausweitung der Rechtsstellung von Einwanderern in den G7-Nationen.

Doch speziell an den letzten beiden Punkten störte sich nicht nur Japan, sondern auch das britische Königreich. Dessen Premierministerin Theresa May reiste wegen des 22 Tote fordernden Terroranschlags in Manchester schon am Freitag vorzeitig – und nicht minder symbolisch – wieder ab. Ebenfalls nicht einverstanden mit den letzten Punkten zeigte sich Donald Trump, der schließlich mit dem Versprechen, illegale Einwanderung zu bekämpfen, die US-Präsidentschaftswahl gewonnen hatte. 

Was am Ende vom italienischen Vorstoß blieb, war kaum mehr als eine von den drei „Nein“-Staaten der Europäischen Union diktierte Fußnote: „Wir beteuern das unumschränkte Recht der Staaten, ihre Grenzen zu kontrollieren“, heißt es im Entwurf der Gipfelverkündung, „und klare Grenzen bezüglich der Nettomigrationshöhe zu ziehen, als zentrales Elemente ihrer nationalen Sicherheit sowie ihres wirtschaftlichen Wohlbefindens“.

Die EU ist damit wieder bei ihrem eigenen Vierpunkteprogramm angelangt: Kampf gegen Menschenschmuggler und ihre Netzwerke, Sicherung der Grenzen zu Land und zu Wasser, insbesondere durch Frontex, Entwicklung eines kontinental vereinheitlichten Asylsystems sowie Öffnung breiter legaler Wege zur Einwanderung nach Europa. Über 15 Milliarden Euro Entwicklungshilfe, klärt die EU-Kommission auf ihrer Netzseite auf, seien in den vergangenen zwei Jahren dafür seitens der Union bereits geflossen. Und weitere zwanzig Milliarden Euro, berichtete die ägyptische Tageszeitung Egypt Independent, habe allein Deutschland 2016 für die Bewältigung der Flüchtlingskrise bewilligt.

Doch ob diese immensen Summen am Ende auch die erhoffte Wirkung erzielen, bleibt fraglich: Denn schon wieder harrten über 6,6 Millionen Flüchtlinge der Einreise nach Europa, zitierte die Bild-Zeitung kürzlich aus einem als „Verschlußsache – nur für den Dienstgebrauch“ gekennzeichneten internen Papier der Bundesregierung. Gut die Hälfte davon halte sich derzeit in der Türkei auf, so Bild, und je eine weitere Million in Ägypten und in Libyen. Und auch die Internationale Organisation für Migration (IOM) warnt vor einer deutlichen Verschärfung der Krise in diesem Sommer. „Wir wissen, daß uns jetzt die tödlichste Jahreszeit bevorsteht“, so Joel Millman, der Sprecher der Lobbyorganisation. „Es fängt gerade erst an. Und wir befürchten, daß die kommenden Wochen noch viel schlimmer werden.“